Ernsthaftigkeit

Immer wenn nichts schief gehen darf, muss die Arbeit mir grosser Ernsthaftigkeit angegangen werden. Das ist eine kulturell tief verankerte Erwartungshaltung insbes. im Hochrisikoumfeld. Kommt’s dann doch nicht gut, hat einmal mehr der Mensch versagt. Ist das alles, was eine Sicherheitskultur zu bieten hat?

Unlängst hat mir ein guter Freund, der immer noch als Kapitän auf der Boeing 777 auf der Strecke fliegt, fast beiläufig eine Geschichte erzählt. Sie ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hat aus Spass die Seiten aller Dokumente gezählt, in denen ihm seine Airline und die Behörden Vorgaben für die Ausübung seiner Tätigkeit machen. Er ist auf die erstaunliche Zahl 12'000 gekommen. Nun wissen wir, dass Vorgaben nicht gleich Vorgaben sind. Aber trotzdem. Die Zahl hinterlässt Spuren.

Stellen wir uns nun vor, dieser Kapitän würde sich mit seiner von Seriosität und Zuverlässigkeit geprägten inneren Haltung in aller Ernsthaftigkeit über die 12000 Seiten beugen. Und er würde sie so lesen, dass er von sich behaupten könnte, er wisse, wo was steht, und kenne Inhalt und Relevanz aller dargelegten Aspekte. Was würde bei einem solchen Vorgehen leiden oder Schaden nehmen?

Ganz offensichtlich die Effizienz. Denn es gibt Seiten, auf denen Dinge beschrieben sind, die für die Ausführung seines Jobs von geringer Bedeutung sind. Handkehrum hat es Seiten, auf denen Sachen stehen, die seine volle Aufmerksamkeit erfordern. Dinge, die er vollkommen verstehen muss, um als Kapitän seine Passagiere sicher, komfortabel und ökonomisch ans Ziel zu bringen.

Und was nähme ebenfalls Schaden?

Kontrollwahn am Werk

Die Geschichte ist eine wunderschöne Metapher für den Ansatz, wie wir konzeptionell vorgehen, wenn wir sicher sein wollen, dass nichts schiefgeht. Beim Job eines Flugkapitäns ist das nachvollziehbar, denn immerhin ist Fliegen mit ernst zu nehmenden Risiken verbunden. Da wollen wir sicher sein, dass sie säuberlich unter Kontrolle gehalten werden. So liegt die Versuchung nahe, dem ausführenden Profi detailgenau zu erklären, wie er zu arbeiten hat. Es geht um Kontrolle. Er hat sich in seiner Arbeit an Vorgaben auszurichten, die sich jene ausgedacht haben, die bspw. das Flugzeug konstruiert haben. Die Hersteller garantieren der Fluggesellschaft, dass die Flüge mit ihrer Maschine sicher sind, wenn sich der Kapitän an ihre Richtlinien hält. Ebenfalls naheliegend ist die ernste Miene des Chefs des Kapitäns, der ihm vor seinem Flug tief in die Augen schaut und ihm zu verstehen gibt, dass er in der vollen Verantwortung steht, sich mit Ernsthaftigkeit an die Vorgaben und Regeln zu halten. Denn eine nicht mit grösstmöglicher Gewissenhaftigkeit ausgeführten Handlung würde er als Fehler taxieren müssen. Unabhängig davon, was die Gründe dafür sein könnten. Auch eine Arbeitserledigung, die die Regeln missachtet, wäre inakzeptabel. Denn was den sicheren Betrieb der Boeing 777 anbelangt, da gibt es kein Pardon. Der Flugzeughersteller, die Luftfahrtbehörde und seine Airline haben alles bis ins kleinste Detail aufgeschrieben. Es geht um korrekte, seriöse Anwendung der Vorgaben. Ein Kapitän, der bei seiner Tätigkeit nicht mit maximaler Ernsthaftigkeit ans Werk geht, ist ein Risikofaktor.

Wirklich?

Die Spuren von 12'000 mit Vorgaben bedruckten Seiten

Wir sehen, dass wir in dieser Geschichte mitten in einem Umfeld sind, in welchem die Ernsthaftigkeit nur so von der Decke tropft. Nebst den ausufernden Regeln und den Chefs die Verantwortung betonen, gibt es in dieser Kultur eine in grossen Lettern an die Wand gemalte Erwartung: «Bemühe dich, die vorgegebene Arbeit in aller Sorgfalt mit höchster Achtsamkeit und Regeltreue zu erledigen». Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden. Auf den ersten Blick scheint in dieser Fluggesellschaft alles mit rechten Dingen zu und her zu gehen.

Auf dem Weg zur Flugplanung gehen dem Kapitän die Worte seines Chefs wieder durch den Kopf, sie haben ihm Eindruck gemacht. Wahrscheinlich aber haben sie noch mehr bewirkt. Als Mensch weiss er, dass er fehlbar ist. Er ist sich bewusst, dass er in Situationen kommen wird, in denen es ihm nicht gelingen wird, sich an all das zu halten, was in den 12’0000 Seiten steht. Das beunruhigt ihn. Einigen seiner Kollegen und Kolleginnen macht es Angst. Es versteht sich von selbst, dass das Credo, welches er sich in dieser Kultur aneignet, heisst: «Ich bemühe mich redlich, die mir zugewiesenen Aufgaben in aller Ernsthaftigkeit zu erledigen und mich strikt an die Regeln zu halten».

Wenn Ernsthaftigkeit zum Hindernis wird

Für die Flugplanung hat er eine halbe Stunde Zeit. Zusammen mit seinem First Officer studiert er die Flugunterlagen. Es sind viele, sehr viele. Sein Credo kommt ihm an diesem Tag zum ersten Mal unangenehm in die Quere. Würde er die ganze Dokumentation mit der Ernsthaftigkeit, die er sich vorgenommen hat, durcharbeiten, würde der Flug mit mehr als einer Stunde Verspätung starten. Dagegen wäre aus Sicherheitsgründen noch nichts einzuwenden. Hingegen wäre er und sein First Officer bei der Flugzeugübernahme heftig im Stress. Beim Versuch, die verlorene Zeit wieder gut zu machen - Pünktlichkeit ist eine wichtige Vorgabe - würden sich Fehler einschleichen. Diese wären mit wesentlich grösseren Risiken verbunden als die nicht in aller Gründlichkeit studierten Flugunterlagen.

Indem es ihm geglückt ist, sich erfolgreich gegen sein eigenes Credo durchzusetzen und er der Ernsthaftigkeit Einhalt geboten hat, hat er etwas Entscheidendes für die Sicherheit getan. Er hat den Beweis angetreten, dass der Mensch in regel-schweren, komplexen und dynamischen Systemen, die sich durch viele wechselseitige Abhängigkeiten auszeichnen, kein Risikofaktor ist. Er ist im Gegenteil ein Sicherheitsfaktor erster Güte.

Er ist die einzige Instanz, die in der Lage ist, in solchen Systemen die schwierige Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Effizienz zu gehen. Sicherheit wird nicht erstellt, indem Regeltreue und Ernsthaftigkeit zur Maxime erhoben werden. Sicherheit in komplexen Systemen kann nur entstehen, wenn vor Ort in der aktuellen Situation jemand da ist, der mit seiner Erfahrung und in Kenntnis der übergeordneten Zusammenhänge sich situativ für mehr oder weniger Ernsthaftigkeit entscheidet. Das gilt nicht nur für Flugkapitäne.

Der Mensch ist Gatekeeper und nicht Risikofaktor

Der Sicherheitskultur kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu. Sie muss so gestaltet sein, dass sie den entscheide-fällenden Menschen in der Organisation wertschätzt. Sie muss Freiräume gewähren und sich davor hüten, mit einer überbordenden Erwartung an Regeltreue aus den Mitarbeitenden und Führungskräften manipulierende Affen zu machen. Wer Sicherheit kulturell zu stark mit Compliance und der von ihr geforderten Ernsthaftigkeit verbindet, geht einer verheerenden Grundannahme auf den Leim. Der Annahme, dass das System, in welchem die Menschen im Unternehmen tätig sind, perfekt gebaut ist.

Hätten wir die Menschen nicht, würden unsere Systeme für unakzeptabel viele Schlagzeilen sorgen. Der Mensch ist mit seiner Fehlbarkeit nicht primär ein Risikofaktor. Er ist der Gatekeeper schlechthin. Binden sie ihn nicht mit einer fehlgeleiteten Sicherheitskultur an den Torpfosten. Denn es macht einen Unterschied, mit welchem Bild im Kopf er zur Arbeit geht: Risikofaktor…? Sicherheitsexperte…?