Das vorschnelle Urteil: Killer der Sicherheitskultur

Für eine Sicherheitskultur, die ihren Namen verdient, müssen Führungskräfte das Fehlerparadigma überwinden. Sie sind gefordert, in ihrem Einflussbereich für psychologische Sicherheit zu sorgen und das geht nur über den Aufbau von Vertrauen. Um das zu erreichen, müssen sie sich mit Irrationalem auseinandersetzten, das im Wesen des Menschen begraben liegt.

Im letzten Blog habe ich mich mit den äusseren Rahmenbedingungen beschäftigt, die für eine innerbetriebliche Sicherheitskultur von Bedeutung sind. Sie sind aber nur die halbe Miete. Wenn nicht gleichzeitig vor der eigenen Haustüre gewischt wird, erweisen sich auch ideale äussere Bedingungen als wirkungslos. Daher möchte ich in den nächsten Blogs auf spezifische Führungspraktiken und Führungsfähigkeiten eingehen, die für den Aufbau und Erhalt einer Sicherheitskultur eine besondere Herausforderung für die Führungsmannschaft sind.

Kultur entwickelt sich im Unternehmen von oben nach unten. Für sie ist das sichtbare Verhalten der Führungskräfte von entscheidender Bedeutung. Ein gutes Standing vorausgesetzt, können sie sich als Vorbilder anbieten und sind damit in der Lage, auch schädliche Paradigmen zu verändern.

Das üble Fehlerparadigma

Wenn es um Sicherheit, Zuverlässigkeit und Resilienz der Organisation geht, steht ein Paradigma besonders sperrig im Raum: das Fehlerparadigma. Wo Fehler da Schuld. Solange es im Unternehmen wirkt, solange werden sich die Menschen, seien es Führungskräfte oder Mitarbeitende, nicht im notwendigen Mass für die Verbesserung der Sicherheit, Effizienz und oder der Qualität einsetzen. Sie haben Angst und werden ihre Unterstützung für die Verbesserung nicht anbieten. Diese Haltung ist rational und verständlich.

Die relevante Frage ist daher, wann was getan werden muss, um die Angst abzubauen und welche Rolle die Führungskräfte dabei spielen. Es gibt Momente, die eignen sich besonders gut, um als Leader Wirkung zu erzeugen. Immer dann, wenn es darum geht, ein Ereignis zu behandeln, welches zu einem unerwünschten Resultat geführt hat. Dort spielt sich das für die Kultur alles Entscheidende wie unter einem Brennglas ab. Fallbehandlungen sind DIE Chancen-Fenster für Vorgesetzte, die Kultur im Unternehmen richtungsweisend zu beeinflussen. Durch die Vorfälle wird ihnen der rote Teppich ausgerollt, auf dem ihr Verhalten besonders nachhaltig der Belegschaft vermittelt werden kann. Solche Chancen bieten sich zum Glück nicht oft. Daher gilt es die wenigen gut zu nutzen. Es geht immer um dasselbe, um das Gewähren der psychologischen Sicherheit. Ich möchte in der Folge auf einen Aspekt eingehen, der Führungskräfte unterstützt, die sich aufmachen, psychologische Sicherheit zu etablieren. Wichtigstes Element dabei ist der Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Das ist einfacher gesagt als getan. Denn auf dem Weg dazu müssen wir wirkungsstarke Wahrnehmungsverzerrungen (Irrationalitäten) verstehen, mit denen uns die Natur ausgestattet hat. Wenn es uns gelingt, sie zu erkennen und ihnen zu widerstehen, dann haben wir gute Voraussetzungen für den Aufbau und den Erhalt von gegenseitigem Vertrauen. Damit können wir den Grundstein für psychologische Sicherheit im eigenen Wirkungskreis legen.

WYSIATI-Regel

Daniel Kahneman hat den Begriff geprägt «What you see is all there is» (WYSIATI). «Nur was man gerade weiss, zählt». Die psychologische Forschung zeigt, dass wir uns unsere Meinung anhand der gegenwärtig verfügbaren Informationen bilden. Das Erfolgskriterium unseres Gehirns ist die Kohärenz der Geschichte, die es daraus zusammensetzt. Die Qualität und Menge der Daten, auf denen sie beruht, ist weitgehend belanglos. Das ist zwar erschreckend, aber es ist so. Unser Gehirn macht aus verschwindend wenig vorhandenen Informationen immer eine kohärente Geschichte. Sie entspricht dann unserer Meinung zum entsprechenden Sachverhalt. Die nicht bekannten, weil nicht wahrgenommenen Informationen könne per se keinen Einfluss auf die Konstruktion unserer Wirklichkeit haben. Doch sie sind da und damit Teil der faktischen und rationalen Realität.

Wenn wir als Führungskräfte mit Ereignissen zu tun haben, die zu einem unerwünschten Resultat geführt haben wie Unfälle mit Schäden oder Verlusten irgendwelcher Art, so haben wir es zuerst mit den Menschen zu tun. Denn sie sind in diese Ereignisse verwickelt und ihre Handlungen sehen wir im Zusammenhang mit den Ereignissen. WYSIATI wirkt. Unser Gehirn baut sich aus den anfänglich vorhandenen Informationen ungefragt eine Geschichte, die einen Sinn ergibt. Diese kognitive Wahrnehmungsverzerrung verbindet das Resultat des Ereignisses (outcome) kausal mit dem handelnden Menschen, weil er 'sichtbar' ist und wir ihn implizit für verantwortlich halten. Die Ursache für das unerwünschte Ergebnis kann gestützt auf diese Informationen nur der Mensch sein, der den an ihn gestellten Ansprüchen nicht gerecht geworden ist und sich so schuldig gemacht hat. Unserem Gehirn reichen drei Inputs für eine kohärente Geschichte: Wer (Mensch), Was (Schaden) und Verantwortung. Diese Informationen lassen es als enorm plausibel erklären, dass der Grund für das Geschehene beim involvierten Menschen liegt, dem die Verantwortung für die Aufgabe übertragen war. Tief in uns verankert entfaltet das Fehlerparadigma 'Wo Fehler da Schuld' seine Wirkung. WYSIATI hat massgeblich zum Entstehen des Fehlerparadigmas beigetragen. Diese Irrationalität wird immer und immer wieder hörbar im Spruch jener, die vom unerwünschten Ereignis erfahren. Sie rufen: Wer hat es getan? Würden sie die nicht vorhandenen Informationen interessieren, würden sie rufen: Was waren die Gründe, die dazu geführt haben?

In komplexen Systemen ist nicht nur der Mensch am Werk

Das Fehlerparadigma offenbart uns, dass es uns immer noch sehr schwerfällt, die Ursachen für unerwünschte Ereignisse in ihrer Vielfalt zu erkennen. Wir sehen stets nur den Menschen und halten verzweifelt an seiner Verantwortung fest. Dies, obwohl wir Systeme geschaffen haben, die seine Einflussmöglichkeiten massiv einschränken. Die eine Komplexität erreicht haben, die den kausalen Zusammenhang zwischen seinem ursächlichen Handeln und der daraus abgeleiteten Wirkung bis zur Unkenntlichkeit vernebeln oder ganz unterbrechen. Wir halten tapfer an dieser überfordernden Verantwortlichkeit des Menschen fest, weil wir uns vor den unabsehbaren Folgen fürchten, gäben wir sie auf.

Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn sie die Verantwortung für 300 Passagiere im Flugzeug haben und der Maschine, die sie steuern, mit einem kleinen Side-Stick gerade mal ihre Absicht kundtun können, wohin sie fliegen soll. Was die Steuerungscomputer mit ihrem Absichtsinput anstellen, wissen sie nicht und können es auch nicht nachverfolgen. Das Einzige, was sie wissen, ist der Umstand, dass es meistens gut kommt und die Computer ein brauchbares Resultat liefern. Aber leider nicht immer. So geschehen bei den zwei tragischen Unfällen der 737 MAX, wo die Steuerungscomputer aufgrund eines Fehlers derart stark in die Steuerung eingegriffen hatten, dass die Piloten die Kontrolle über die Maschine verloren haben. Es ist nicht jedermanns Sache für Aufträge, die derart fremdbestimmt sind, die Verantwortung zu übernehmen.

Sich zur Wehr setzen

Wir können es nicht verhindern, dass sich unser Gehirn bei Vorliegen von ganz wenigen Informationen eine plausible Geschichte zusammenbaut. Aber wir können unterbinden, dass wir uns daraus eine Meinung über das Vorgefallene bilden. Denn eine Meinung ist mit einem Urteil verbunden. So ist auch jede Schuldzuweisung ein Urteil. Urteilende Vorgesetzte müssen sich fragen, was sie damit bezwecken. Und inwiefern dieser Zweck Teil ihres Jobs ist. Sind Leader insbesondere in Unternehmen die grosse Risiken unter organisatorische Kontrolle bringen müssen, nicht dazu da, die Dinge sicherer und zuverlässiger zu machen? Haben sie nicht die Aufgabe, für kontinuierliche Verbesserung, Effizienz und Output-Qualität zu sorgen?

Wer sich das zur Aufgabe macht, stemmt sich mit aller Kraft gegen die Irrationalität der vorschnellen Urteilsbildung. Wenn das gelingt, wird es seine Wirkung nicht verfehlen. Mit dem Verzicht auf ein Urteil verzichtet die Führungskraft, sich über den anderen zu stellen. Etwas, das nicht allen Leadern leichtfallen dürfte. Doch damit wird die Voraussetzung für eine gelingende Beziehung und für Vertrauen geschaffen. Es macht den Weg frei für eine Betrachtung der Geschehnisse der anderen Art. Sie öffnet den Blick auf all die mitverursachenden Einflussfaktoren und sie lässt die Frage zu, warum es in der Situation, in der sich die Betroffenen befunden haben, Sinn machte, so zu handeln oder zu entscheiden. Wenn sich Führungskräfte und Mitarbeitende in der Vorfall-Behandlung auf Augenhöhe begegnen können, haben sie eine gute Chance, eine Geschichte der Ereignisse nachzuzeichnen, die den realen Begebenheiten nahekommt. Sie erlaubt es, adäquate Schlüsse zu ziehen und wertvolle Lernprozesse in Gang zu setzen.

Auch hier gilt: Verstanden ist noch nicht gelernt. Meine Erfahrung in Kulturentwicklungsprojekten zeigt mit aller Klarheit, dass diese Disziplin Teil des Leadership Trainings sein muss, welches im Rahmen der Organisationsentwicklung angepackt werden sollte. Es ist nicht die einfachste und für einige Führungskräfte stellt sie eine enorme Herausforderung dar. Es kommen Führungsphilosophien ins Wanken.