Wendezeit

Unsere austarierten und perfektionierten Ansätze, Verfehlungen und Schaden von uns abzuwenden erweisen sich zunehmend als brüchig und ineffektiv. Mit Akribie schaffen wir Regelwerke und Compliance-Strukturen, nur um festzustellen, dass sich damit Ungemach nicht abhalten lässt. Eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Vorgehensweise ist angesagt.

In regelmässigen Abständen werden wir Zeugen von Verfehlungen in Unternehmen und Organisationen. Auch die Bundesbetriebe SBB, SWISSCOM, Post und Ruag machten im letzten Jahr Schlagzeilen mit viel Unerfreulichem, sodass sich Politiker und die eidgenössischen Räte genötigt sahen, sich der Sache anzunehmen. Neue Gesetzte müssten her, die Kontrolle müsse verschärft werden, so der Tenor in Bern. Unbesehen der Tatsache, dass der zutage getretene Aktivismus wohl eher politisch motiviert war, zeigte sich bei den Räten das immer wieder beobachtbare, reflexartige Muster nach mehr Vorgaben und mehr Überwachung in der Reaktion auf unerwünschte Ereignisse oder Zustände. Dasselbe ist auch in den Unternehmen regelmässig zu beobachten. Wenn unsere Antwort auf Verfehlungen darin besteht, mit mehr Regeln und mehr Kontrollen zu reagieren und wir gleichzeitig die Erfahrung teilen, dass wir von ihnen trotzdem immer wieder überrascht werden, sollten wir uns mit unserem reflexartigen Verhaltensmuster etwas näher auseinandersetzen. Wie erfolgreich und effizient ist unser Konzept, wenn es darum geht, Dinge zuverlässiger und sicherer zu machen?

Unser ‘Compliance-Konzept’ basiert auf der Annahme, dass Vorgaben, Regeln und Gesetze Betriebsanleitungen von Systemen aller Art sind, welche beschreiben, wie die Systeme einen vorhersehbaren Output liefern. Er basiert zudem auf der Annahme, dass sich die im System tätigen Menschen an diese Betriebsvorschrift halten, dass sie compliant sind. Der dritte Bestandteil dieses Konzepts ist die Kontrolle. Damit wird sichergestellt, dass die Betriebsanleitung richtig implementiert ist und dass sich die Menschen an sie halten. In aller Kürze besteht das Konzept aus Regeln, Compliance und Audit. Nun stellen wir aber fest, dass dieser transaktionale, kausale Ansatz uns seine Schwächen immer und immer wieder offenbart.

Mangelnde Kompetenz

Untersuchungen von unerwünscht eingetretenen Ereignissen im Hochrisikoumfeld, dort, wo die Analyse des Vorgefallenen mit besonderer Akribie erfolgt, zeigen, dass es in komplexen Systemen immer wieder zu Situationen kommt, für die die Betriebsanleitung keine Anweisung bereitgehalten hat. Weiter stellen wir fest, dass es in unseren Systemen zu Fehlleistungen kommt, obwohl alle im Sinne der Befolgung der Betriebsanleitung alles ‘richtig’ gemacht haben. Es kommt noch schlimmer. Wir stellen weiter fest, dass es oftmals nur gut gekommen ist, weil sich ein oder mehrere Akteure im System nicht an die Betriebsanleitung gehalten haben. All diese Situationen führen uns auf unliebsame Weise vor Augen, dass wir mit dem Schreiben von Betriebsanleitungen für komplexe Systeme zunehmend überfordert sind. Kleinlaut müssen wir uns eingestehen, dass uns die nötige Kompetenz abgeht.

Leadership ist angesagt

Damit drängt sich für die Akteure in komplexen soziotechnischen Systemen die Aufforderung, situativ das Richtige zu tun, immer mehr in den Vordergrund. Der simple Gehorsam der Regelbefolgung greift zunehmend zu kurz. Sich bequem nur dem Einhalten der Vorgaben zu verpflichten, wird, so unangenehm es sich auch anhören mag, der Sachverpflichtung weichen müssen. Die Verantwortung für die Sache drängt sich in den Vordergrund. Leadership ist angesagt – für alle. Für die Chefs wie auch für die Mitarbeitenden. Wenn es sicher und zuverlässig zu und her gehen soll, müssen alle Verantwortung für die Sache übernehmen. Compliance ist ein Kind des Paradigmas der Organisation. Sie gehört, wie Frederick Winslow Taylor in seinem Werk “Principles of Scientific Management” bereits 1919 ausführte, zum Fabrikwesen der industriellen Revolution. Sie gehört dahin, wo der Mensch als Teil der Maschine verstanden wird, wo alles steuerbar und kontrollierbar ist wie bei einer Maschine, wo das Unternehmen zur Organisation wird. Compliance gehört dahin, wo die Gedankenarbeit von der Ausführungsarbeit getrennt wird. Der Umstand, dass derjenige, der denkt, heute erfahren muss, dass er seiner Sache nicht mehr gewachsen ist, rückt den anderen, der sich gewohnt war, mit einfacher Regeltreue seinen Beitrag zu leisten, ins Scheinwerferlicht der Mitverantwortung für das übergeordnete Ganze.

Bedeutung der Compliance überdenken

Wir haben in der Vergangenheit viel dazu beigetragen, dass Compliance überhandgenommen hat. So wichtig sie in kausalen Zusammenhängen sein mag, so korrosiv wirkt sie heute in komplexen Umfeldern, in Zeiten von Wandel, Krisen und Veränderung. Es ist angebracht, jetzt über die Bedeutung der Compliance nachzudenken. Wir tun gut daran, genau hinzusehen, wo sie ihre Rolle nach wie vor spielen kann. Wir sollten uns daranmachen und diejenigen Bereiche im Unternehmen herausschälen, in denen sie der Sache nicht gewachsen ist. Da, wo ihre Fehlanreize Kollateralschäden verursachen und da, wo sie als Instrument für Zuverlässigkeit und Sicherheit stumpf geworden ist. Der Compliance wohnt die Arroganz inne, dass der Denkende recht hat und der Ausführende kein Recht hat. Mittlerweile wissen wir, dass es keiner Obrigkeit jemals geglückt ist, uns die Welt zu erklären, geschweige denn uns eine Bedienungsanleitung für sie zu schreiben.

Die Aufgabe der Führung

In Anbetracht der zunehmend erkennbaren Überforderung wäre Demut angesagt und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Wenn es in unserer Welt darum geht, Klippen zu umschiffen, Risiken zu bewältigen und Schaden abzuwenden und damit für Sicherheit zu sorgen, muss sich die Führung anders aufstellen. Sie wird sich zunehmend mit der Frage beschäftigen müssen, wie in der Organisation oder im Unternehmen ein Klima des Vertrauens aufgebaut werden kann. Wie ein der Unbill der Komplexität trotzendes Miteinander gestaltet sein soll. Sie wird sich einem Credo zuwenden müssen, welches zum Ziel hat, das System zu verstehen. Sie wird aus allen Lernende machen; sich selbst als Vorbild vorneweg. Sie wird Meldesysteme einbauen und alles daransetzten, dass die Meldepersonen keine Angst haben müssen. All dies wird helfen, das organisationale Lernen zu verankern, Ereignisse als Chance wahrzunehmen und die Fehlbarkeit des Menschen primär im Lichte der Systemkomplexität zu verstehen. Dadurch werden sich anbahnende Probleme niederschwellig adressierbar. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sich die Entscheidungsträger in einer Eskalation wieder finden und oder dass sie aus der Presse erfahren, was im eigenen Unternehmen falsch läuft. Verfolgt man im Nachgang zu unerwünschten Vorkommnissen ihre Entstehungsgeschichte, so wird oft festgestellt, dass es Menschen in der Organisation gab, die davon wussten. Meist waren auch Hinweise auf das sich anbahnende Ereignis vorhanden, diese wurden aber nicht systematisch erfasst und analysiert. Der Showcase zu diesem Thema sind die unsäglichen Verfehlungen und die mit ihnen verbundenen Ränkespiele am Universitätsspital Zürich. Das Versagen des ‘Compliance Ansatzes’ kam da mit aller Schärfe ans Licht und die Entscheidungsträger sahen sich veranlasst, unter dem situativen Druck sich der Sicherheitskultur zuzuwenden. Wir verfolgen die Entwicklung mit Spannung. Denn es müssen Hierarchien abgebaut, Silos zum Einstürzen gebracht und Key-Player zu Lernenden gemacht werden.

Was wir brauchen

Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die Reaktion der Politik und der Räte auf die Verfehlungen in den Bundesbetrieben als zwar verständlich, aber weder effizient noch zeitgemäss. Was die Unternehmen brauchen, sind gesetzliche Rahmenbedingungen, die es erlauben, nachhaltige Sicherheitskulturen aufzubauen. Das wäre der Job des Parlaments. Es braucht einen wirkungsvollen Schutz der Meldepersonen und der in den Sicherheitsmanagement-Systemen und den ‘Critical Incident Reporting Systems’ des Gesundheitswesens erfassten Sicherheitsdaten. Es braucht eine strikte Trennung der Vorfalluntersuchungen, die sich dem Lernen widmen, von den Untersuchungen der Strafverfolgungsbehörden. Es braucht eine Strafgesetzgebung, die sich nicht am Schaden ausrichtet, sondern an den Ursachen, die zum Schaden geführt haben und es braucht eine griffige Gesetzgebung, die es erlaubt, nicht nur Individuen, sondern Organe und Entscheidungsträger, die die Systemverantwortung tragen, zur Rechenschaft zu ziehen. Es braucht in unserer komplex gewordenen Welt juristische Verfahren, in denen es möglich ist, die wichtige Frage zu beantworten, welches im zu beurteilenden Fall das höher Gut für die Gesellschaft darstellt: Maximal viel aus dem Vorgefallenen zu lernen oder die Schuldigen zu suchen und zu bestrafen. Und es braucht einen unverkrampfteren Umgang mit dem Whistleblowing. Bei all dem hätten die Räte viel zu tun. Dass sie auf die Verfehlungen in den Bundesbetrieben mit Kontrolle und Misstrauen reagiert haben, hat all den dringend benötigen Änderungen an den gesetzlichen Rahmenbedingungen kein bisschen Vorschub geleistet.

Es ist Wendezeit.