Unsere Vorstellung davon, wie es zu unerwünschten Ereignissen kommt, bei denen der Mensch die Hand im Spiel hat, braucht dringend ein Update!
Unser Hirn wurde in einer Zeit formatiert, in der es zwischen Ursache und Wirkung stets einen direkten kausalen Zusammenhang gab. Die Handlungen des Menschen führten zu einem Resultat, welches nur aufgrund seines Tuns entstehen konnte. Mit Betonung auf 'nur' im Sinne von ausschliesslich. Es war die Zeit der einfachen Systeme. Kausalität, wohin man blickte. Alles stand in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zum anderen. Gute alte Zeit. Nicht, dass wir uns ganz von diesen Ursache-Wirkungsketten verabschiedet hätten. Nein, es gibt sie (zum Glück) immer noch, wenngleich wir sie in der modernen Arbeitswelt regelrecht suchen müssen. Schauen wir uns hingegen etwas um und betrachten das Umfeld der arbeitstätigen Menschen etwas genauer, so zeigt sich ein völlig anderes Bild. Sie geben Inputs in Systeme, welche ihnen ein Resultat präsentieren, ohne dass sie in der Lage wären, nachzuvollziehen, wie es zustande kam. Sie arbeiten mit Outputs von Blackboxes, ohne ihre innere Logik zu kennen. Der Umstand, dass sich etwas zwischen dem handelnden Menschen und seiner Leistung installiert hat, ist eines der Merkmale unserer heutigen Arbeitswelt. Es relativiert seine Ursächlichkeit und müsste ihn in gleichem Masse von seiner vollen Verantwortung entbinden. Damit tun wir uns allerdings sehr schwer.
Doch das ist nur ein Aspekt der neuen Arbeitswelt. Der andere ist die Zunahme der Komplexität. Viele von uns, ich wage zu behaupten, dass es die Mehrheit ist, sind in grosse Systeme eingebettet, in denen sie ein kleiner Knotenpunkt in einem riesigen Netzwerk sind. Das Bild des winzigen Rädchens im grossen Räderwerk gehörte als Metapher zur Industrialisierung, welche wir schon lange hinter uns gelassen haben. Es zeigte auf anschauliche Weise die mechanische Ursache-Wirkungskette und ihre Kausalität. Das war einmal.
In ein Netzwerk eingebunden
Im Netzwerk aber bin ich nur noch beeinflussend tätig und ich kann nicht sagen, welchen Output meine Inputs genau zur Folge haben. Wir haben die Steuerbarkeit unserer Systeme weitestgehend verloren und beschäftigen uns mit Einflussnahme. Gibt es einen Menschen, der uns das Handy bis ins Detail erklären kann? Ich zweifle. Brauchen wir das? Nein, denn wir lernen es über unterschiedliche Inputs (Einflussnahmen) verstehen und bedienen. Oder lesen sie tatsächlich noch Bedienungsanleitungen? Der Umstand, dass wir nur noch beeinflussen, aber nicht mehr wirklich steuern und kontrollieren können, sorgt auch dafür, dass wir nurmehr indirekt ursächlich sind und wir bestenfalls eine Mitverantwortung tragen können, sollte sich etwas Unerwünschtes zutragen.
In der heutigen Arbeitswelt sind wir gefangen im Netz von unzähligen Funktionen, die das System zusammenhalten und leistungsfähig machen. Wir beeinflussen mit unseren Handlungen und wir werden von den anderen Funktionen beeinflusst. Jede Funktion im System dient einem Zweck und ist normalerweise genau beschrieben und geregelt. Als Beispiele, um nur einige zu nennen, können uns die folgenden hilfreich sein: Auswahl von Mitarbeitenden und Kader, Ausbildung, Vorgaben und Regelwerke, Verträge, Führungssysteme, technische Systeme, Kommunikation und last but not least die Leistung (Handlungen) des Menschen im System. Für jede Funktion bilden die anderen die Umgebung, weil sie alle im System miteinander interagieren. Alle diese Funktionen haben eine normale und akzeptierte Variabilität. Das heisst, sie dürfen in einem gewissen Mass schwanken und das tun sie auch. So haben technische Systeme eine ‘Mean Time Between Failure rate’ (MTBF). Damit wird die erwartete Zeit zwischen zwei Ausfällen für ein reparierbares System beschrieben. Die Verfahren für die Auswahl von Führungskräften haben sich weit entwickelt, doch sie bieten uns keine hundertprozentige Gewähr, den oder die Richtige zu finden. Die Kommunikation im Unternehmen erfüllt in der Regel ihre Zwecke und doch kommt es immer wieder zu Misskommunikation oder Missverständnissen. Und last but not least kann uns Menschen im System trotz erfolgreicher Ausbildung und genügender Erfahrung ein Missgeschick zustossen, das zu einem unerwünschten Ereignis beiträgt. Auch bei einer intakten inneren Haltung, variiert unsere Leistung. Wir sind fehlbar, wie alle anderen Funktionen im System auch.
Funktionale Resonanz
Wenn wir ein System so betrachten, können wir verstehen, dass es zu zufälligen Überlagerungen von Schwankungen verschiedener Funktionen kommen kann, die einen Vorfall produzieren. Dies, obwohl in keiner Funktion die Schwelle des Tolerierbaren überschritten worden wäre. Alles hat so funktioniert, wie es funktionieren soll. Nur das System als Ganzes hat versagt. Wir haben es mit dem Phänomen der ‘funktionalen Resonanz’ zu tun.
In einer solchen Welt die Vorstellung aufrecht zu erhalten, dass der Akteur vor Ort immer direkt kausal für das im System entstandene Resultat voll verantwortlich ist, ist ein starkes Stück. Sie reduziert die Betrachtung auf eine Funktion, den Menschen und blendet alle anderen Einflüsse aus. Es ist eine Realitätsverzerrung erster Güte und unredlich obendrauf. Wenn diese Sicht von Führungskräften hochgehalten wird, ist es Ausdruck einer Haltung, mit dem Ganzen nichts zu tun zu haben, um sich so möglicherweise vor der eigenen Mitverantwortung zu drücken. Wir sind in der Welt des Miteinanders und der komplexen Systeme angekommen.
Fazit
Die funktionale Resonanz konfrontiert uns mit dem schwer hinzunehmenden Umstand, dass sich Vorfälle oder Unfälle in komplexen Systemen mit einer unberechenbaren Zufälligkeit ereignen können. Was das für die Organisationen und Unternehmen bedeutet, die sich im Hochrisikoumfeld bewähren müssen, darauf werde ich in den nächsten Blogbeiträgen eingehen. So viel vorneweg: Alle, die noch in der Vorstellung leben, das menschliche Handeln an der Front folge in der modernen Arbeitswelt der Ursache-Wirkungskette und könne als einzige taugliche Begründung für das Resultat betrachtete werden, müssen sich den Vorwurf der sozialromantischen, industriell geprägten Träumerei gefallen lassen. Sie benötigen dringend ein Update, wenn sie in komplexen Systemen Hand anlegen wollen.