Sicherheitskulturen brauchen Leader, nicht Manager

Unerwünschten Ereignisse wie Vorfälle oder Unfälle geben den Führungskräften die Chance, die Sicherheitskultur im Unternehmen weiterzuentwickeln. Ihr Umgang damit ist entscheidend für den Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Je nachdem, welches Bild von ‘Führung’ sie in sich tragen, werden sie dabei erfolgreich sein oder scheitern.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Wenn wir als Führungskräfte mit einem unerwünschten Ereignis konfrontiert werden und dann unreflektiert spontan reagieren, haben wir mit grosser Wahrscheinlichkeit den ersten Fettnapf bereits betreten. Von da weg befinden wir uns in einer Uphillbattle, wenn es darum geht, Vertrauen aufzubauen. In den letzten zwei Blogs sind wir der Sache auf den Grund gegangen. Wir unterliegen diversen Täuschungen, die allesamt dafür sorgen, dass wir Mühe haben, ein faktisches Abbild dessen zu bekommen, was sich beispielsweise in einem Vorfall tatsächlich abgespielt hat. Wir neigen zum vorschnellen Urteil, glauben aus der Rückschau und in Kenntnis des vorliegenden Schadens genau zu wissen, was sich zugetragen hat und uns reichen minimale Informationen für eine kohärente Geschichte des Hergangs. All diese Illusionen führen dazu, dass wir die Bedeutung des involvierten Individuums als ursächliche Person überzeichnen. Sie beweisen auch, dass die mitverursachenden systemischen Aspekte in unserem Kopf ein Mauerblümchendasein fristen. Wenn wir uns kognitiv nicht gegen diese Irrtümer zur Wehr setzen, drängt sich die Schuldfrage auf. Sie ist nicht Ausdruck von Wohlwollen und sie kann je nach Situation für die Beschuldigten sogar verletzend sein. Wie soll so Vertrauen wachsen?

Nicht Reiz-Reaktion, sondern gezielte Vorbereitung

Eine Sicherheitskultur kann nur in einem Umfeld von gegenseitigem Vertrauen entstehen. Dann, wenn ich jederzeit über selbst gemachte Fehler berichten kann und ich die Gewissheit habe, dass mir daraus keine Nachteile erwachsen. Sondern dass ich damit einen konstruktiven Beitrag für die Sicherheit leiste, weil andere von meiner Erfahrung lernen können. Und weil ich weiss, dass ich damit einen Lernprozess anstosse, der auch der Frage nachgeht, was das System lernen könnte. Ob ich von einem mir unterlaufenen Fehler berichte, hängt direkt davon ab, wie ich die Reaktion meiner unmittelbar vorgesetzten Führungskraft einschätze. Ich bin da sehr vorsichtig und scheue jedes Risiko. Wer belastet sich schon gerne selbst? Dies wissend macht es für alle Führungskräfte Sinn, sich zu überlegen, wie sie in solchen Situationen reagieren und welche Haltung sie einnehmen wollen. Was sie sagen werden und welche Fettnäpfe sie proaktiv auf die Seite schieben. Mit anderen Worten, Vorbereitung ist angesagt. Es stehen zwei Fragen im Zentrum: Wie kann ich Vertrauen bilden und welche Rolle nehme ich als Führungskraft ein?

Vertrauensbildung

Ich weiss nicht, wie es ihnen geht. Ich selbst baue Vertrauen in andere Menschen auf, wenn sie mir gegenüber wohlwollend eingestellt sind. Wenn ich kein Risiko laufe, von ihnen verletzt zu werden und wenn ich weiss, dass sie letztlich gute Absichten haben. Es sind somit genau diese drei Punkte, die wir in der persönlichen Auseinandersetzung und für die Vorbereitung auf ein Gespräch nutzen können. Gelingt es mir, der Person wohlwollend zu begegnen? Was sind meine guten Absichten? Was würde die andere Person verletzen?

Nun ist Vertrauen keine Einbahnstrasse, sondern entsteht wechselseitig. Daher lohnt es sich in einem zweiten Teil der Vorbereitung auch die folgende Frage im Voraus zu stellen: Was müsste die Person tun, um mich zu verletzen? Und last but not least werde ich mich im Face to face achten, ob der andere mir gegenüber wohlwollend eingestellt ist und ob ich seine guten Absichten erkennen kann. Der zweite Teil der Vorbereitung ist für die Steuerung des Gesprächs von Bedeutung. Wenn ich von der anderen Person verletzt werde und oder mir Misstrauen entgegenschlägt, werde ich die Beziehung zum Thema machen. Die Besprechung des Vorgefallenen wird dann sekundär.

Die Rolle der Führungskraft: Richter oder Coach?

Die Rolle einer Führungskraft wird nicht nur über den Auftrag definiert, sondern ebenso sehr durch die unzähligen Erwartungen an das WIE der Führung. Da wir auch eigene Vorstellungen von der Art und Weise wie wir führen haben, eröffnet sich hier ein Freiraum, den es zu nutzen gilt. Indem wir das WIE unserer Führung für uns persönlich klären, interpretieren wir unsere Rolle als Führungskraft innerhalb unternehmenskulturell gegebener Bandbreiten weitgehend selbst. Um diese Interpretation geht es. Welches Bild von ‘Führung’ trage ich in mir? Bin ich die denkende und anordnende Instanz, die Aufträge erteilt und die überprüft, ob alles richtig gemacht wurde? Dann habe ich mich für Steuerung und Kontrolle entschieden, lebe im Paradigma der Organisation und funktioniere Top-down. Wer Führung so interpretiert, wird im Falle eines unerwünscht eingetretenen Ereignisses in die Rolle des Richters gedrängt. Der Gerechtigkeitssinn wird dafür sorgen, dass die Verantwortung für das Vorgefallene einer Person zugeteilt wird. Damit einher geht die Anschuldigung und damit die Angst des oder der Betroffenen und geopfert wird das Vertrauen. Eine solche Sicht auf die Dinge ist stets mit der immer wieder zu beobachtenden Nicht-Bereitschaft von Führungskräften verbunden, die Mitverantwortung für Mängel im System zu übernehmen.

Es geht auch anders. Wenn sich das Bild von Führung am übergeordneten Ganzen orientiert. Wenn Mitarbeitende nicht als Werkzeuge einer Organisationsmaschinerie verstanden werden, sondern als wertvolle Ressourcen, die nicht morgens zur Arbeit fahren mit der Absicht, einen Fehler zu machen. Mitarbeiter, die besondere Fähigkeiten haben und gleichzeitig fehlbar sind wie jeder Mensch. Dann schlüpfen Leader in die Rolle des Coaches. Sie unterstützen, machen Lernen möglich und suchen im Miteinander nicht nur die Problemlösung, sondern streben auch nach der Verbesserung des Systems. Sie übernehmen Mitverantwortung. Sie schaffen Vertrauen.

Die Mitverantwortung für das System

Unabhängig davon, wie eine Führungskraft Führung versteht, die Aufforderung, die Mitverantwortung für erkannte Systemmängel zu übernehmen, ist eine heftige Ansage. Es ist letztlich eine Angelegenheit der inneren Haltung und Einstellung. Der Weg dazu ist kein Sonntagsspaziergang. Wenn ich mich aufmache, muss ich mich mit einer anstrengenden Frage beschäftigen. Gelingt es mir, trotz der normalerweise stark eingeschränkten Einflussmöglichkeiten auf das System hinzustehen und die Mitverantwortung für die Mängel auf mich zu nehmen? Das ist nicht leicht, denn die systemischen Aspekte, die für das Ereignis mitverursachend waren, müssen häufig auf oberen und höchsten Managementebenen angegangen werden. Mir wird das Argument in den Schoss gelegt, dass ich ja nur ein kleines Licht bin und meine Kompetenzen, Mittel und Möglichkeiten für die Problembehebung nie und nimmer ausreichend sind. Was, wenn jede Führungskraft so denkt? Im Grunde geht es in dieser Auseinandersetzung darum, ob ich mich als Leader, als Teil einer Führungsmannschaft verstehe oder als fremdbestimmter Untertan mit einem Jobprofil, dem ich gehorchen muss.

Es lohnt sich im Übrigen, sich in diesem Zusammenhang die Frage zu stellen, ob es redlich wäre, vom Mitarbeiter Verantwortung für seine Handlungen zu verlangen, ohne selbst für Systemmängel mitverantwortlich zu zeichnen. Mitverantwortung ist eine Sache der inneren Haltung von Führungskräften. Wem dies nicht gelingt, dem geht Grösse ab. Das wäre für viele noch verkraftbar. Nicht aber für das Unternehmen. Denn eine Mitverantwortung-ablehnende Haltung torpediert die vertrauensbasierte Sicherheitskultur empfindlich. Sie überlässt das Problem dem Mitarbeiter, reduziert und trivialisiert das Vorgefallene und missbraucht die der Hierarchie verdankte Macht für eigene Zwecke.

Ein langer Weg, der Führungskräften viel abverlangt

Zu der oben erwähnten Vorbereitung auf ein Gespräch mit Betroffenen gehört somit eine spezifische Auseinandersetzung mit den systemischen Aspekten des Vorfalls. Meine Erfahrung zeigt, dass das keine leichte Aufgabe ist. Es ist eine ungewohnte und daher schlecht beherrschte Perspektive auf die Sicht der Dinge. Sie muss geübt werden wie jede Führungstätigkeit. Es ist nicht nur herausfordernd, die mitverursachenden Elemente zu erkennen, mit schwingt stets erschwerend die uns von Mutter Natur eingepflanzte Täuschung, dass die Ursachen doch die Handlungen der involvierten Personen gewesen sein müssen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Bedeutung der systemischen Aspekte für das Zustandekommen von unerwünschten Ereignissen von Führungskräften immer noch ungebührlich relativiert wird. Dieser Umstand ist Ausdruck einer wenig entwickelten Sicherheitskultur. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Weg zu einer vertrauensbasierten Kultur lange ist. Er beginnt da, wo Führungskräfte ihre Interpretation von Führung überdenken und neu ausrichten, wo es ihnen gelingt, Vertrauen aufzubauen und sie in die Lage kommen, für psychologische Sicherheit zu sorgen und da, wo sie die systemischen Aspekte von Ereignissen und deren Bedeutung zu erkennen vermögen. Dieser Weg ist ein Kulturwandel, der ohne Hick-ups nicht zu bewältigen ist. Daher lohnt es sich, für die ersten Schritte einen Coach zur Seite zu haben, der nicht nur den Weg kennt, sondern auch dafür sorgt, dass die Entwicklung der Organisation auf dem eingeschlagenen Pfad bleibt.