Leistungsbeurteilung von Menschen in komplexen Systemen

Ist es zielführend, wenn Arbeitsfehler im englischen besser als «honest mistake» bezeichnet im Personaldossier der unglücklichen Akteure landen? Diese immer noch weit verbreitete Praxis ist eines der konkreten Hindernisse für eine gelebte Vertrauenskultur. Mentale Barrieren in den Köpfen von Führungskräften sind die Blocker. Können wir darüber reden?

In den letzten Blogartikeln war immer wieder die Rede vom komplexen Arbeitsumfeld. Weitherum können wir beobachten, wie uns die Kosten des Fortschritts in Form von zunehmender Komplexität präsentiert werden. Seien es neue Produkte, Dienstleistungen, Verträge oder Gesetze. Sie alle entstehen aus einem Umfeld, welches in atemberaubendem Tempo komplexer wird. Oder sie selbst drehen an der Schraube der Komplexität. «Mastering Complexity» wird zum Anspruch, nicht nur für Führungskräfte. Schaffen wir das? Nun, wenn darin der Wunsch nach einer Rückgewinnung der Kontrolle gemeint sein sollte, wird die Erwartung zwangsläufig zu einer Enttäuschung führen. Die Antwort liegt eher in einer geschickten und intelligenten Einflussnahme. Das mag für einige etwas gewöhnungsbedürftig sein. Ich fürchte, dass hier eine Anpassungsleistung an die Realität im Raum steht.

Komplexe Systeme habe die angenehme Seite, neue Dinge möglich zu machen. Und sie haben die unangenehme Seite, dass sie zu Systemversagen führen können, ohne dass die einzelnen Funktionen ihre definierten Leistungsgrenzen zu überschritten brauchen. Das Phänomen der funktionalen Resonanz kann erwirken, dass mit einer zufälligen Überlagerung von tolerierbaren Leistungsabweichungen einzelner Funktionen ein unerwünschtes Ereignis eintreten kann. Zufällig.

Wie wir den Menschen vor seiner Fehlbarkeit zu schützen versuchen

Die meisten Systeme sind rund um den Menschen gebaut. Er übernimmt i. d. R. nach wie vor eine wichtige Funktion. Seine Fehlbarkeit wird mit einer Vielzahl von technischen und organisatorischen Mitteln auf ein akzeptables Mass reduziert. So werden Piloten in modernen Cockpits durch eine computergarantierte ‘Envelope Protection’ am Verlassen der aerodynamischen Enveloppe der Maschine gehindert. Denn ein solches wäre nicht nur ein furchteinflössendes Manöver für die Passagiere, sondern könnte auch die Ursache für einen Absturz sein. Was nicht mehr und nicht weniger heisst, als dass man die Piloten noch steuern lässt, aber nur bis zu einem vordefinierten Grad. Das fühlt sich übrigens so an, als wenn man Sie daran hindern würde, die Strasse zu überqueren, ohne zuerst nach links und rechts geschaut zu haben. Ein nur bedingt gutes Erlebnis. Mit organisatorischen Massnahmen, die dem freien Handeln des fehlbaren Menschen Grenzen setzen, sind bspw. Regeln, Prozessvorgaben und Kompetenzbeschränkungen gemeint. Bei zunehmender Komplexität ist es nicht verwunderlich, dass wir je länger, je mehr in einer Flut von Gesetzen und Vorgaben zu ersticken drohen. Sie alle sind Ausdruck des Versuchs, die Fehlbarkeit des Menschen auf ein tolerierbares Mass zu beschränken, um damit die Kontrolle nicht zu verlieren. Das alles funktioniert leidlich gut. Wir sollten mit dem bisher erreichten zufrieden sein, wenngleich es mit der Akzeptanz von gewissen Risiken einhergeht. Wissen wir doch heute, dass ein Mehr an Regulation nicht mehr Sicherheit oder Zuverlässigkeit bedeutet. Wir haben das jetzt ausgereizt.

Vom redlichen Umgang mit dem Fehler

Lassen Sie uns noch einmal vor Augen führen, dass das Eintreten gewisser Risiken in komplexen Systemen der Zufälligkeit geschuldet ist? Sie kann sich nur ergeben, wenn darin zufällig eine Überlagerung von mehreren (im einzelnen tolerierbaren) Funktionsabweichungen auftreten. Sobald ein Mensch mit seinem Handeln oder Unterlassen in einem so zustande gekommenen unerwünschten Ereignis involviert war, neigen wir dazu, dass sich alle Blicke auf ihn richten. Ist es redlich, wenn sich herausstellt, dass er die Grenzen seiner ihm ‘vorgegeben Enveloppe’ nicht verlassen hat? Dass er weder vorsätzlich noch grobfahrlässig gehandelt hat? Dass er mit einer intakten inneren Haltung in eine Situation verwickelt wurde, die zu einem nicht beabsichtigten Vorfall führte? Er trug, davon können wir in den meisten Fällen ausgehen, dazu bei, dass es geschehen konnte. Vielleicht mit einer Unachtsamkeit, die allein jedoch nicht zum unerwünschten Resultat geführt hätte. Wäre es redlich, wenn dieses dem Zufall geschuldete Vorkommnis den Weg in seine Personalakte finden würde? Wie fair ist es, wenn solch spontane Fehlbarkeiten für die Qualifizierung eines Mitarbeiters oder einer Führungskraft herbeigezogen werden? Wie fair sind die Seitenblicke der Kolleginnen und Kollegen, die üblicherweise mit ihm zusammenarbeiten? Wir sind oftmals gnadenlos. Und wir sind oftmals unanständig undifferenziert. Wer bemüht sich schon darum, all die anderen Einflüsse in Erfahrung zu bringen, die zum Ereignis beigetragen haben? Wer startet den Versuch der Komplexität gerecht zu werden? Wer schafft es, einer einzelnen Fehlbarkeit nicht die Bedeutung einer qualifikatorischen Dimension zu geben?

Von guter Führung

Das alles hört sich für einige Leserinnen und Leser bestimmt wie ein Plädoyer für eine Generalamnestie an. Als ein Versuch, Mitarbeitende und Führungskräfte in komplexen Arbeitsumfeldern generell vom Hacken zu nehmen. Als eine Argumentation, keine Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Als ein Zeichen der Schwäche. Nun, dieses Bild kann nur bei jemandem entstehen, der dem fehlbaren, in das Ereignis verwickelten Menschen die Absicht unterstellt, keine Verantwortung übernehmen zu wollen. Das ist heftig. Ich kenne keine Ärzte, keine Piloten, keine Fluglotsen und keine Operateure in Kernkraftwerken, die so mit Verantwortung umgehen. Wie sollte unter einem solchen Mindset je Vertrauen aufkommen? Indem ich als Führungskraft oder Kollege meinen Erwartungen an die Unfehlbarkeit fröne und jedem, der sie nicht zu erfüllen vermag, unabhängig davon, wie sich die Begebenheiten darstellen, mit Skepsis und Anschuldigungen begegne? Dass dies korrosive Gedanken sind, braucht hier nicht weiter ausgeführt werden. Dass sie einer Misstrauenskultur das Wort reden, ist offensichtlich. Einer Kultur, die es schwer haben dürfte, in einer Hochverfügbarkeitsorganisation für Zuverlässigkeit und Sicherheit zu sorgen. Im Spital, im Kernkraftwerk, in der Airline oder im Bahnbetrieb, um nur einige zu nennen.

Wer sich als Führungskraft dazu verleiten lässt oder es gar richtig findet, dass Vorkommnisse der geschilderten Art für die Qualifikation von Beteiligten herbeigezogen werden sollten, der darf sich nicht wundern, wenn ihm selbst die Qualifikation als Manger in einer High Reliability Organisation abgeht.

Der Arbeitsfehler, besser der ‘honest mistake’, hat in einem Personaldossier nichts zu suchen.

Wenn Sie es schaffen, als Führungskraft in ihrem Verantwortungsbereich dieses Grundprinzip der Just Culture zu verankern, dann werden Sie überrascht sein, was passiert. Zweifeln Sie? Dann kontaktieren Sie mich. Ich kann Ihnen die Auswirkungen anhand konkreter Beispiele aufzeigen.