Den Aufbruch in ein neues Jahr nehmen viele zum Anlass, neue Vorsätze zu fassen. Vielleicht geläutert durch die Review der vergangenen zwölf Monate an den Festtagen, erlebt die eine oder der andere eine Motivation, die Arbeit an sich selbst (wieder) aufzunehmen. Mit diesem Blog möchte ich all jenen, die diesen Wunsch nach Selbstverbesserung in sich spüren, einen Fokus für ebendiese Tätigkeit geben.
In den letzten zwei Blogs bin ich auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen eingegangen, die für Sicherheitskulturen in den Unternehmen von grosser Bedeutung sind. Nun schlage ich einen Bogen zum anderen Ende der Skala, auf der die zentralen Arbeiten an der Fehlerkultur (Just Culture) eingetragen sind. Am Anfang dieser Skala steht der Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen. Wir befinden uns also da, wo sich jede und jeder fragen kann, was er oder sie dazu beitragen kann, dass die Dinge im Unternehmen sicher vonstattengehen. Spontan haben wir dazu bestimmt Antworten bereit. So bspw. sich Mühe geben, sich an die Regeln halten, sich bei der Arbeit konzentrieren, kein Stress aufkommenlassen, Ruhe bewahren und vieles mehr. Es handelt sich dabei um Appelle, die wir an uns und an andere richten. Die Erfahrungen, die wir mit diesen Aufrufen gemacht haben, sind durchzogen, weil es manchmal bei bester Absicht und intakter innerer Einstellung sehr schwierig sein kann, ihnen gerecht zu werden. Alle haben wir auf unterschiedliche Weise unsere eigene Fehlbarkeit erlebt; der nur bedingten Fähigkeit, sich an Vorsätze zu halten. Diese Erlebnisse relativieren das Konzept des Vorsatzes. Ein ernsthaft gemeinter Plan ist noch lange keine Garantie für eine erfolgreiche Umsetzung. Dies wissend macht es wenig Sinn, sich für die Selbstverbesserung, die Appelle, die wir an uns selbst richten, wieder einmal klar vor Augen zu halten. Hingegen könnte es darum gehen, eine innere Bereitschaft zu erstellen, um sich im kommenden Jahr mit der Fehlbarkeit von uns Menschen im Allgemeinen etwas näher zu befassen. Das heisst, sich ein wenig Zeit für die Auseinandersetzung mit dem Fehler zu nehmen und die Chancen, die uns der Alltag bietet, zu nutzen. Denn die Art und Weise, wie wir selbst mit unseren und den Missgeschicken von anderen umgehen und was wir als Führungskräfte mit den Erkenntnissen aus solchen Ereignissen machen, ist wichtig. Wahrscheinlich ist es noch bedeutungsvoller für die Sicherheit als die aktuell ungünstigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Sicherheitskulturen in unseren Unternehmen. Eine gute Sicherheitskultur kann nur gedeihen, wenn wir uns konstruktiv mit der Fehlbarkeit von uns Menschen und mit der Imperfektion der von uns geschaffenen Systeme auseinandersetzen.
Hättest du dir Mühe gegeben, wäre es nicht passiert!
Wir Menschen sind nicht perfekt, wir sind fehlbar. Das ist keine Annahme, sondern gesichertes Wissen. Es ist Gewissheit. Doch wie erklären wir unsere Reaktion, wenn wir Kenntnis von einem Fehler erlangen oder direkt Zeuge oder Verursacher eines Mishaps sind? Eine ungeschickt umgestossene Kaffeetasse, ein Kratzer beim Einparken, ein verschossener Elfmeter des Mittelstürmers meiner Lieblingsmannschaft, die Mail vergessen, die der Kunde dringend gebraucht hätte. In vielen solchen Situationen ist es uns nicht möglich, den Gedanken nicht zu haben: «Hätte er oder sie sich etwas Mühe gegeben, wäre es nicht passiert». Versuchen Sie es bei nächster Gelegenheit. Womit wir bereits beim Kern des Themas angelangt sind. Dieser Gedanke veranschaulicht uns, dass wir eine Annahme mit uns herumtragen, die besagt, dass wir fehlerlos sein könnten, wenn wir uns Mühe gäben. Sie verträgt sich schlecht mit der Gewissheit, dass Menschen fehlbar sind. Sie besagt letztlich, dass, wenn die Bedingung des Sich-Mühe-Gebens gegeben ist, wir unfehlbar sind. Sie suggeriert, dass wir ohne Fehler sein können, wenn wir es wollen. Das aber widerspricht allen unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass es hier nicht um Fehler geht, die mit Vorsatz oder mit Grobfahrlässigkeit begangen wurden. Willentliches Fehlverhalten, bewusste Inkaufnahme von Schäden und grobe Missachtung von offensichtlichen Risiken sind nicht Bestandteil dieser Diskussion. Es sind in der Regel nicht diese Art von Fehler, die uns im Alltag beschäftigen. Es sind die Handlungen, welche unbeabsichtigte Folgen haben, die Arbeitsfehler oder «Honest Mistakes».
Das wissenschaftliche Bild vom Menschen
Wir pflegen ein Bild von uns, welches geprägt ist von Rationalität und Berechenbarkeit, dem wir in der Realität nicht zu genügen vermögen. Wir schaffen komplexe Systeme und legen mit grosser Akribie die Regeln fest, die ihr Funktionieren garantieren sollen. Dieses Konzept basiert auf zwei Grundannahmen. Wir gehen davon aus, dass die Regeln richtig sind und dass sich alle an sie halten. Nur um immer wieder festzustellen, dass weder das eine noch das andere auch wirklich zutrifft. Wenn wir uns in einem Schadenfall, der durch einen Fehler eines Mitarbeiters verursacht wurde, die Mühe nehmen, herauszufinden, weshalb es dazu gekommen ist, so stellen wir stets zwei Dinge fest. Das System hat nicht so funktioniert, wie wir gemeint haben und die Menschen darin sind fehlbar.
Einer, der sich mit dieser Fehlbarkeit als Psychologe wissenschaftlich auseinandergesetzt hat und dafür mit dem Nobelpreis geehrt wurde, ist Daniel Kahnemann. In seinem Buch ‘Schnelles Denken, langsames Denken’ (Thinking, Fast And Slow) fasst er unsere Fehlbarkeiten auf sechshundert Seiten zusammen. Er zeichnet ein Bild von uns Menschen, das geprägt ist von zwei Systemen, die wechselseitig unser Denken beeinflussen. Vom 'System 1', welches unbewusst mühelos arbeitet, nicht abgestellt werden kann und intuitiv und schnell denkt. Und vom 'System 2', welches willentlich gesteuert ist, sich den anstrengenden mentalen Aktivitäten annimmt und bewusst und langsam denkt. Der Schwerpunkt seines Buchs sind die Fehler in unserem intuitiven Denken. Er veranschaulicht, wie die Einflüsse des 'System 1' in Form von kognitiven Verzerrungen die vermeintliche Rationalität unseres Wesens erheblich stören. Er zeigt auf, wie wir mit einer gehörigen Portion Selbstüberschätzung unterwegs sind, wenn wir glauben, dass unser bewusstes, rationales Denken im Driver-Seat unseres Lebens sässe. Kahnemann erklärt die vielfältigen Effekte, die dazu führen, dass wir bei Entscheidungen von den Regeln der Rationalität abweichen. Er berichte von den unwesentlichen Merkmalen, welche erheblichen Einfluss auf unsere Entscheidungsprozesse haben und von unserer bedauerlichen Neigung die Probleme isoliert zu betrachten. Er legt dar, wie wir ein übermässiges Vertrauen in das haben, was wir zu wissen glauben. Und er geht auf unsere Unfähigkeit ein, das ganze Ausmass unseres Unwissens und der Unbestimmtheit der Welt zuzugeben.
Errare humanum est
Es gibt eine Fehlbarkeit, die nichts mit dem Willen zu tun hat. Wir können uns anstrengen, wie wir wollen, wir bleiben fehlbar. Die erste, wohl schwierigste Aufgabe in der Auseinandersetzung mit dem Fehler ist die: Sind Sie wirklich davon überzeugt, dass Menschen fehlbar sind? Sollten sie diese Frage nicht mit einem klaren und eindeutigen JA beantworten können, hätten Sie die Wissenschaft gegen sich und noch viel Arbeit vor sich. Der lateinische Spruch, der in diesem Zusammenhang nicht fehlen darf, lautet «Errare humanum est». Dabei handelt es sich um eine Verkürzung, die uns eine Erkenntnis verbirgt, die der ganze Satz offenbart. Ganz lautet er: «Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum.» Was so viel heisst wie: «Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch». Schon die Römer waren sich gewahr, dass die Infragestellung unserer Fehlbarkeit eine unmenschliche Sache ist.
Hand in Hand mit dem Gedanken: «Hättest du dir etwas Mühe gegeben, wäre es nicht passiert», geht die Anschuldigung. Denn sich nicht Mühe geben, ist nicht okay (dies, obwohl wir wissen, dass unser rational denkendes System 2 faul ist). Wir haben es mit einem tief verwurzelten Fehlerparadigma zu tun, über das wir uns nur mit Aufwand hinwegsetzen können: wo Fehler da Schuld. Oftmals ist dieser unselige Zusammenhang emotional unterfüttert. Das macht es uns zusätzlich schwer, in solchen Situationen klar zu denken. Doch gerade das wäre dann angesagt. Hier ein Vorschlag für alle, die an ihrer Selbstverbesserung als Führungskräfte arbeiten:
Wie wir der ärgerlichen ‘Fehler-Schuld-Kausalität’ entkommen können
Das Reiz-Reaktions-Modell kann uns helfen, zu verstehen, was in solchen Situationen mit uns ‘geschieht’ und es bietet uns einen Ausweg aus dem Fehlerparadigma. Das Modell besagt, dass einem äusseren Reiz direkt eine Reaktion folgt. Diese archaische Form der Handlungsauslösung haben wir immer noch eingebaut. Sie entspricht dem Instinkt des Tiers. Wird ein Bär auf freier Wildbahn gestört (Reiz), greift er an und beisst zu (Reaktion). Wenn ich von einem Fehler (Reiz) erfahre, entsteht der Gedanke ‘Schuld’ (Reaktion). Im Unterschied zum Tier verfügen wir Menschen aber über ein Bewusstsein. Dieses verschafft uns einen Raum zwischen Reiz und Reaktion. Darin finden wir unser Vorstellungsvermögen, welches wir nutzen, um ein Soll-Bild von uns zu machen. In diesem Raum hegen wir unsere Werte nach denen wie unser Leben führen wollen. Auch unser Gewissen und unser freier Wille sind darin aufgehoben. Wir haben die Fähigkeit zu entscheiden, wie die Reaktion auf den äusseren Reiz ausfallen soll. Das gibt uns die Möglichkeit, sie so zu gestalten, dass sie unseren Prinzipien und Überzeugungen als Führungskraft und Mensch entspricht? Dank dieser Fähigkeit können wir die unsägliche Kausalität zwischen Fehler und Schuld auflösen. Wenn wir mit einem Missgeschick konfrontiert werden, so können wir vor der Reaktion unsere Prinzipien im Umgang damit prüfen. Wenn wir in unserer ‘Werte-Datenbank’ den Eintrag finden: «Ich anerkenne, dass der Mensch fehlbar ist. Ich stehe als Führungskraft für kontinuierliche Verbesserung und lernen ein und deshalb interessiert es mich, WARUM der Fehler geschehen ist und nicht WER ihn gemacht hat», so wird meine Reaktion keine Anschuldigung sein. Ich habe dann proaktiv gehandelt, weil meine Antwort nicht durch den Reiz gesteuert wurde, sondern durch meine Prinzipien und Werte. So gelingt es uns, uns vom unseligen Fehlerparadigma zu lösen. Dieser Ablauf verlangt eine gehörige Portion Selbstführungskompetenz. Er manifestiert sich als kognitiver Kraftakt und fühlt sich kontraintuitiv an. Mit anderen Worten, er ist anspruchsvoll. Doch an Führungskräfte sollten wir diese Anforderung stellen können, auf Blaming zu verzichten. Sind es doch sie, die eine erfolgreiche Sicherheitskultur etablieren und pflegen können. In High Reliabiltiy Organisationen sollte diese Persönlichkeitskompetenz ein wichtiger Bestandteil der Auswahlkriterien für Manager sein.
Was dürfen Sie erwarten?
Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Fehlbarkeit und die der anderen in diesem Sinne zu verstehen und lernen, so damit umzugehen, wird sich in Ihrem Umfeld einiges verändern. Ihre Mitarbeitenden werden sofort erkennen, dass Sie den Fehler als Lernchance verstehen. Sie werden sehen, dass Sie es sich nicht einfach machen, indem Sie das unerwünschte Ereignis dem Individuum anhängen. Sondern, dass Sie Verantwortung für das System übernehmen und der Frage nachgehen, was Sie als Führungskraft dazu beitragen können, dass es nicht wieder passiert. Ihre Leute werden erfahren, dass Sie die Umstände berücksichtigen, in den es zum Fehler kam, weil Sie explizit danach fragen. Sie werden Sie als jemanden erleben, der den organisationalen Lernprozess nährt und der den Mitarbeitenden als Ressource bei ihrem individuellen Lernen zur Verfügung steht. Das alles schafft Vertrauen und ist gelebtes Miteinander. Es ist nichts weniger als der Boden einer guten Sicherheitskultur.
Das ist das eine. Und das andere? Sie haben einen persönlichen Sieg errungen, weil Sie als Mensch und Führungskraft unabhängiger geworden sind. Sie sind nicht mehr reiz-reaktions-gesteuert unterwegs und Ihr Handeln beruht auf eigenen Entscheidungen und ist nicht das Resultat von Umständen, Nöten und Zwängen.