Falsches Auge operiert

Das Gesundheitssystem kämpft mit Fehlbehandlungen, die an die Öffentlichkeit kommen. Es sind unschöne Geschichten, nicht nur weil sie mit dem Leiden von Patientinnen und Patienten verbunden sind, sondern weil sie allzu oft nicht fürs Lernen genutzt werden. Was steckt dahinter?

Gestern hat sich die Journalistin Alexandra Bröhm vom Tages Anzeiger mit einem Artikel an die Leserschaft gewendet, der uns Einblick in eine dunkle und unschöne Seite unserer Gesellschaft gibt. Einer Gesellschaft, die lieber Fehler ahndet, als daraus lernen zu wollen.

Sie erzählt von Operationen am falschen Auge, von der Amputation zweier Brüste bei einer Patientin, bei der eigentlich nur ein kleiner Eingriff geplant war und vom Verabreichen von falschen, weil verwechselten Medikamenten. Vordergründig geht es um das Versagen von Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden. In Anbetracht des unerhörten Leids der betroffenen Patienten haben diese Geschichten das Potenzial, Wut und Empörung bei der Leserschaft auszulösen. An wen sich diese richten, ist klar. Schlampige Arbeit der Ärzteschaft und oder der Pflege. Doch das greift viel zu kurz. Denn es mutet schon ein wenig abenteuerlich an, unseren Gesundheitsprofis generell eine lasche Arbeitshaltung zu unterstellen. Im Zentrum der Fehlervermeidung geht es vielmehr ums Lernen aus unerwünschten Ereignissen. Alexandra Bröhm kritisiert daher zu Recht die Unfähigkeit des Gesundheitswesens in der Schweiz ein zentrales Register für Meldungen von Arbeitsfehlern einzurichten. Ein solches wäre die Basis für Lernsysteme, die Verbesserungen bewirken und das Zustandekommen von ‘Never Events’ reduzieren oder ganz verhindern könnten. Doch auch das greift noch zu kurz. Mehr dazu später.

Never Events

Als ‘Never Events’ werden im Artikel Vorkommnisse bezeichnet, die sich nie zutragen dürften. Dass dem Begriff eine unrealistische Hoffnung innewohnt, braucht nicht speziell erwähnt zu werden. Wir Menschen sind nun mal fehlbar. Viel unglücklicher ist der Umstand, dass mit dem Begriff das Resultat eines Ereignisses adressiert wird und nicht die Gründe, die dazu geführt haben. Doch nur die sind von Interesse, wenn es darum geht, das Gesundheitswesen sicherer zu machen. Liebe Ärzteschaft, liebe Pflegende, liebe Patientensicherheitsexperten oder wer auch immer den Begriff ‘Never Event’ ins Spiel gebracht haben mag: Bitte löst euch von ihm. Er führt in die falsche Richtung. Es geht doch nicht um die Never Events! Es geht um die ‘Never Causes’! Es darf gewisse Gründe nicht geben, die zu einem Vorkommnis führen. Das ist entscheidend und nur das.

Der Mensch ist stets in ein System eingebunden und Einflüssen ausgesetzt

Erst die Ausrichtung auf die Ursachen macht den Blick frei für all die kontextbedingten Einflüsse, die ein Ereignis begünstigen oder triggern. Ähnliche Verpackungen für Medikamente mit unterschiedlichen Wirkungen, schlecht aufgesetzte Arbeitsprozesse, Zeitdruck, fehlende Ressourcen und vieles mehr. Ärztinnen, Ärzte und Pflegende sind bei ihrer Arbeit in Umfeldern tätig, die sie unablässig beeinflussen. Wenn sie Handlungen ausführen, die zu ungewollten Resultaten führen, so waren stets solch hinderliche Einflüsse situationsprägend mit im Spiel. Doch weil sie als Akteure Teil der Geschichte sind, müssen sie, wenn sie Meldung erstatten, damit rechnen, dass sie sanktioniert werden. Weil sie von Menschen be- und verurteilt werden, die nicht auf Ursachen (‘Never Causes’), sondern auf ‘Never Events’ fixiert sind.

Es ist dieser unselige, festverdrahtete mentale Prozess mit seinem Fokus auf das Resultat, der uns den Blick auf die Ursachen vernebelt. Er ist einer der Gründe, die dazu führen, dass keine Meldesysteme gebaut und gepflegt werden. Meldesysteme, die die Meldenden schützen und die sich die Ursachenfindung auf die Fahne geschrieben haben. Die unreflektierte und meist ungerechte Personifizierung der Ursache hat zu unserem Strafrecht und zu unserem Gerechtigkeitsempfinden geführt. Wir sollten das überdenken und uns fragen, was uns den wichtiger ist. Die Bestrafung der Akteure oder das gute Gefühl, sich als Patient dem Gesundheitswesen anvertrauen zu können. Einer Medizin, welche lernfähig ist und die das Risiko einer Fehlbehandlung kontinuierlich reduziert. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber mir ist die zweite Variante definitiv sympathischer.

Strafe verhindert Lernen

Es erstaunt mich nicht, dass ich in einem Kommentar des Artikels von Alexandra Bröhm lese, dass die Strafe für den fehlbaren Arzt, der fälschlicher- und unnötigerweise zwei Brüste amputiert hat, beschämend tief ausgefallen sei. Mit keinem Wort fragt die Kommentatorin nach den Gründen für das Vorgefallene. Wie die Maus vom Blick der Schlange hypnotisiert, sieht sie nur das Resultat. Es ist schrecklich, ausser Frage. Doch die Bestrafung des Arztes hat einen viel grösseren Schaden angerichtet. Sie hat Lernen verhindert und die Gefahr im Raume stehen lassen, dass sich derselbe Fehler wieder und wieder zutragen kann und sich das Leid multipliziert statt reduziert. Das Einzige, was der unglückliche Mediziner als rationale Lehre aus der Geschichte mitnehmen kann, ist: Schweigen ist tatsächlich Gold.

Wenn wir dem irrigen Glauben nachleben, dass sich im Gesundheitswesen mit einem nachdrücklichen Aufruf an alle Ärztinnen, Ärzte und Pflegende, sich doch bitte ab sofort mehr Mühe zu geben, die Dinge zum Besseren wenden werden, dann sind wir auf dem Holzweg. Wir müssen verstehen, dass wir damit den Sack schlagen, aber den Esel meinen. Ein substanzieller Teil der Schweizer Gesundheitsorganisationen verfügt heute immer noch nicht über ein Managementsystem, welches die Ereignisse erfasst, analysiert und mit adäquaten Massnahmen das Risiko reduziert. In der Luftfahrt sind diese Managementsysteme nicht nur regulatorisch gefordert, sondern zu einer kulturell verankerten Selbstverständlichkeit geworden. Werte Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Gesundheitssystem wäre es nicht an der Zeit, sich von diesem nicht mehr nachvollziehbaren Mangel zu befreien? Es geht ja nicht nur um eine Verbesserung der Patientensicherheit, sondern auch um Reputation.

Doch bei allem dürfen wir eines nicht übersehen. Die Kritik an den Akteuren des Gesundheitswesens greif da zu kurz, wo wir als Bürger und Bürgerinnen gefordert wären. Wir lassen nämlich rechtliche Rahmenbedingungen zu, die es den Institutionen im Gesundheitswesen in der Schweiz nicht erlauben, ihre Meldepersonen im Zusammenhang mit Arbeitsfehlern vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen. Daher sollten wir uns nicht verwundern, wenn die Akteure stumm bleiben und das Gesundheitswesen in diesem Bereich keine Fortschritte macht.

Die Politik steht in der Verantwortung

Unsere direktdemokratische Untätigkeit mit Nachdruck die erwähnten gesetzlichen Rahmenbedingungen bei der Politik zu fordern, beschert uns gemäss einer Schätzung des Bundesamts für Gesundheit jährlich 2000 Tote. Menschen, die wegen vermeidbarer Fehler und Komplikationen gestorben sind. Empörung und Appelle nützen da herzlich wenig. Wir sind aufgerufen, unsere Politikerinnen und Politiker in die Pflicht zu nehmen. Es darf nicht sein, dass sich das Parlament im nächsten Jahr, wenn es sich mit dem Postulat ‘Redlichkeitskultur im Schweizer Recht’ befasst, wieder untätig bleibt. Wenn es sich einmal mehr mit der althergebrachten Perspektive mit dem Thema auseinandersetzt, die geprägt ist vom überholten Reiz-Reaktions-Modell: Wo Fehler ist, muss Strafe sein. Ich zumindest gehe davon aus, dass wir von unseren Volksvertreterinnen und Vertreter ein Denken in etwas anspruchsvolleren Zusammenhängen erwarten dürfen. Ebenso glaube ich, dass nicht nur die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen, sondern auch unser Parlament lernfähig sind.