Es ist ein wehmütiger Blick zurück in die neunziger Jahre. Damals stand das Krisenmanagement des Bundes als der Praxis gewachsen da und es genoss eine Anerkennung, die weit über die Landesgrenzen hinausging. Es entstand und wurde fit gehalten dank einer noch nicht verbrämten Beziehung der Verwaltung zur Armee. Letztere hat selbsterklärend einiges an Wissen und Erfahrung auf dem Gebiet des Krisenmanagements anzubieten. Einen wesentlichen Beitrag zum damaligen Standing hatte Laurent Carrel. Er ist der Autor im deutschsprachigen Raum, der zum Thema Leadership in Krisen etwas zu sagen hat. Es ist schade, dass sich die Strukturen, das Wissen und das Können des durchgängig gut konzipierten Krisenmanagements des Bundes über die Zeit aufgelöst haben. Wir würden heute viel davon profitieren.
Überforderte Verwaltung
Auf der Suche nach den Gründen für diese unrühmliche Verflüchtigung stösst man zwangsläufig auf den üblichen Verdächtigen. Auf eine sich über Jahre in Sicherheit wiegende ‘Gesellschaft Schweiz'. Sie wurde durch eine lange Zeit der Sorglosigkeit geprägt und konnte gut behütet zusehenden, wie Unregelmässigkeiten wie beispielsweise die Finanzkrise nahezu schadlos überstanden wurden. Nicht einmal die Aufhebung des fixen Wechselkurses zum Euro brachte den solid gebauten Tanker Schweiz vom Kurs ab. Die aussergewöhnliche Inertia unseres Landes erlaubte es unseren Behörden und Institutionen, mit ihrer geölten Maschinerie, die aufkeimenden Nöte einfach weg zu administrieren. Der eine oder andere, auch in der Verwaltung tätige, mag daraus den Schluss gezogen haben, dass unsere Regierung zusammen mit den Behörden und Institutionen dieses Landes Krisen managen können. Heute wissen wir es. Sie können es nicht. Weder mit dem Rückgriff auf die vielen in guten Jahren vergrabenen Nüssen noch mit allen anderen Assets, die unser best-funktionierender Staat zu bieten hat, gelingt es, der aktuellen Krise brauchbar Paroli zu bieten. Sie schüttelt uns aus der wohlig warmen Komfortzone, in welcher der Eindruck entstanden war, dass wir in Sicherheit leben und die Geschehnisse unter Kontrolle haben. Mit Schrecken stellen wir fest, dass der Schweiz auf Bundesebene die Kompetenz zum Führen in der Krise abhandengekommen ist. In aller Schärfe tritt zutage, dass der Modus Operandi der Verwaltung sich definitiv nicht für das Meistern einer solchen ausserordentlichen Situation eignet. Dass Behörden diese Fähigkeit nicht besitzen müssen, ist selbstredend. Dass sie sich aber nicht weigern, in diese Rolle gedrängt zu werden und man da und dort den Eindruck gewinnt, dass sich gewisse Exponenten in der ihnen nun zugefallenen Aufgabe gar gefallen, ist irritierend.
Umgang mit Kontrollverlust
Wenn die Führung in Zeiten von Ungewissheit und Nichtwissen aufgefordert wird zu handeln, muss sie sich vom Gedanken der Kontrollierbarkeit der Ereignisse verabschieden. Es gibt ein paar wenige, dafür umso wichtigere Grundsätze, an denen sich ein erfolgreiches Krisenmanagement ausrichtet. Beim Ersten geht es um eine demütige innere Einstellung, die mit dem Wissen verbunden ist, dass man nur Einfluss auf die Ereignisse nehmen kann. Und das in Anbetracht des Unerwarteten in aller Bescheidenheit. Denn wer im Daten- und Wissensvakuum der Krise agieren soll, muss über ‘trial and error’ dem Chaos Informationen entlocken, um es besser zu verstehen. Im Krisenmanagement geht es um Lernen. Mit kreativen und unkonventionellen Massnahmen wird Einfluss genommen. Denn in der Krise wird man über Handeln klug. Wer nicht handelt, bleibt stehen und lässt dem Chaos seinen Lauf. Gefragt sind Flexibilität, Agilität und Pragmatismus. Nicht dogmatisch determinierte Projekte führen zum Erfolg, sondern Experimente, die so aufgesetzt sind, dass sie auch scheitern können. Es können nicht genug Fehler gemacht werden, denn sie sind gleich wie das Gelingen von Versuchen, die Quelle wertvoller Informationen. Die innere Einstellung zum Risiko orientiert sich am ertragbaren Verlust und nicht an einem projektierten Gewinn. Ein effektives Krisenmanagement lebt bestens mit brauchbaren Ansätzen, von Perfektion will niemand etwas wissen.
Wer so handelt und so denkt, wurde bestimmt nicht in der Verwaltung sozialisiert. Unsere Behörden und Institutionen sind nicht nur keine Führungsorgane, sondern wurden in einer langen Schönwetterperiode durch die Compliance-Mühle geschliffen. Sie tun, was im Gesetz steht. Leider ist dort nicht nachzulesen, wie man mit einer Krise umzugehen hat. Sie halten an Qualitätskriterien fest, die im Normalzustand vernünftig sind, in der aktuellen Situation aber gefährlich. Sie beginnen zu agieren, wenn das Problem auf ihrem Tisch angekommen ist, von Weitblick ist nichts zu erkennen. Sie folgen einem Handlungsmuster, das davon ausgeht, dass Nichtstun zu keinen Fehlern führt. Doch Verantwortung tragen wir für unsere Handlungen wie auch für unsere Unterlassungen. Die Rolle, die der Verwaltung, den Behörden und unseren Institutionen in der aktuellen Lage zukommt, ist dezidiert unangemessen. Wir sind heute Zeugen einer ernüchternden Ideenlosigkeit. Die Kreativitätsarmut ist erschlagend. Die mutlose, bürokratische Risikoaversion lässt der Krise ihren freien Lauf. Wir Bürger kommen uns vor wie Passagiere eines in Notlage geratenen Flugzeuges, dessen Kapitän in seinen Reglementen nach dem Passus sucht, der es ihm erlaubt, sein antriebslos gewordenes Flugzeug in den Hudson zu steuern, um dort Notwassern zu dürfen.
Risikoaversion und was wir damit zu tun haben
Diese scharfe Kritik ist nicht für jeden und jede, die sie auf sich beziehen mag, gerechtfertigt. Denn es gibt strukturelle Probleme im Krisenmanagement des Bundes, die fairerweise nicht einzelnen angehaftet werden dürfen. Die Kritik beschreibt einen unhaltbaren Zustand, der über lange Zeit entstanden ist und zu dem viele Akteure beigetragen haben. Wir ernten gerade die Früchte unserer Sorglosigkeit und unserer Realitätsentfremdung der letzten vielen Jahre. Diese haben tiefe Spuren in unserer Bereitschaft, Risiken einzugehen, hinterlassen.
Wir haben uns an Sicherheit und Stabilität gewöhnt. Dass der Staat mit seinen Institutionen uns vor Risiken schützt, ist zur Gewissheit geworden. Sprüche wie «What ever it takes» haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Null-Risiko-Mentalität ist zum Kulturbestandteil geworden. Und so haben wir in all den Jahren die Erfahrung gemacht, dass sich die Dinge zum Guten wenden, wenn wir keine Risiken eingehen. In der Krise entpuppt sich dieser Glaubenssatz als Aberglaube. Wenn es uns heute nicht gelingt, mit den Risiken zu leben, die untrennbar mit ihrer Bewältigung verbunden sind, vergeben wir den Erfolg. Denn jetzt gilt: Wer nichts riskiert, gewinnt nichts. Es will uns offenbar partout nicht gelingen, den immensen Kollateralschaden zu sehen, den das Administrieren der Krise produziert. Ganz offensichtlich mangelt es uns an der Vorstellungskraft, wie es sein könnte, wenn wir von Beginn an versucht hätten, mit unkonventionellen, pragmatischen und kreativen Lösungen vor die Lage zu kommen. Die schiere Angst, die ausgetrampelten Pfade des ‘courant normal’ zu verlassen, hat uns blockiert. Das helvetische Krisen-Malaise ist eines, an dem wir wacker mitwirken.
Die Auswirkungen der Sorglosigkeit
Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist dieses Wirken der Grund, weshalb das Krisenmanagement im Bund heute eine derart deplorable Figur macht. Das Paradigma der Sorglosigkeit hat sich nicht nur in der Bevölkerung ausgebreitet. Es hat sich in der Politik, den Behörden und Institutionen über die Jahre schleichend, aber gründlich eingenistet. Beobachtbar am Umstand, dass die für die Krisenbewältigung vorgesehenen Organe im Bund zu Beginn der Krise von der Verwaltung ausgespielt wurden. Das Departement des Innern und das Bundesamt für Gesundheit konzipierten das Krisenmanagement neu. Dies, obwohl es hinlänglich bekannt ist, dass ein nicht eingeübtes Krisenmanagement wenig Chance auf Erfolg hat. Wir können nur hoffen, dass diese offenbar gewordene Selbstüberschätzung in der Reflexion erkannt wird und dass es den Involvierten gelingt, sich damit konstruktiv auseinanderzusetzen. Es macht viel Sinn, wenn wir uns in Krisenzeiten an den ‘best practices’ des Krisenmanagements ausrichten und es jenen Leuten in die Hand geben, die etwas davon verstehen. Dies alles nützt aber nichts, wenn die Behörden und Institutionen bei der Umsetzung der Massnahmen ihren Fuss nicht von der Verwaltungsbremse nehmen. Sie sind aufgefordert mitzuspielen.