Wir sind im neuen Jahr angekommen. Wer weiss, vielleicht haben Sie, liebe Leserin oder lieber Leser dieses Blogs sich als Führungskraft vorgenommen, dem Fehler mit einer anderen Haltung zu begegnen und auf Blaming zu verzichten. Bestimmt dauert es nicht lange, bis ihr Vorsatz auf dem Prüfstand steht und als Herausforderung gemeistert werden will. Sie könnte so daherkommen:
Nehmen wir an, eine Ihrer Mitarbeiterinnen hat unachtsam auf einen Link in einer Mail geklickt, der einen Hackerangriff auf Ihr Unternehmen ermöglicht hat. Sie diskutieren in der Geschäftsleitung gerade darüber, ob sie den Tätern das Lösegeld zahlen wollen oder nicht. Zudem wissen Sie, welche Mitarbeiterin den folgenschweren Klick gemacht hat. Sie selbst bewahren Ruhe und hören sich die Kommentare im Gremium an. Er musste kommen! Einer Ihrer Geschäftsleitungskollegen sagt: «Wenn sich die Mitarbeiterin etwas Mühe gegeben hätte und achtsam genug an der Arbeit gewesen wäre, wäre es nicht passiert»! Sie sind auf diesen anklagenden Spruch vorbereitet und lassen sich nicht so schnell von Ihrem Vorsatz, auf Anschuldigungen zu verzichten, abbringen. Und trotzdem schleicht sich ein unangenehmer Gedanke ein, der Sie verunsichert. Ein Verdacht. Sie kennen die Mitarbeiterin und sind sich in Anbetracht des Vorgefallenen nicht ganz sicher, ob diese nicht Opfer ihrer immer wieder mal latent durchschimmernden, freizeitorientierten Schonhaltung geworden ist. War gar Desinteresse an der Arbeit im Spiel? War ihre Einstellung zur Arbeit der Grund für den Fehler mit seinen verheerenden Auswirkungen?
Es gibt Führungskräfte, bei denen der Verdacht der nicht intakten inneren Haltung schnell einmal mitschwingt und sie darin bestärkt, dass eine Beschuldigung gerechtfertigt sei. Diese bezieht sich dann nicht mehr auf das eigentliche Fehlverhalten als vielmehr auf die dahinterliegende, vermutete verwerfliche Haltung. Weder Grobfahrlässigkeit oder gar Vorsatz sind im vorliegenden Fall erkennbar, denn die Hacker hatten gute Arbeit geleistet; die Mail kam recht professionell daher. Die Bedenken widmen sich also der möglicherweise nicht adäquaten Einstellung der Mitarbeiterin. Leider gibt es keine objektiv beobachtbaren Kriterien, mit denen eine solche Haltung nachgewiesen werden könnte. Es bleibt bei der Vermutung, die auch eine Unterstellung sein kann.
Die Redlichkeitskultur weist den Weg
Wir sehen in diesem Beispiel zwei wichtige Dinge, die für ein gelingendes Miteinander in einer Sicherheitskultur von Bedeutung sind. Wenn Mitarbeitende Zweifel an ihrer intakten inneren Haltung erkennen lassen und oder wenn es Vorgesetzten in der Fehleraufarbeitung nicht gelingt, sich prioritär um die Frage des Warums zu kümmern, dann kommt es nicht gut. Einer wirkungsvollen und fest verankerten Sicherheitskultur liegt ein Vertrag zugrunde, der Redlichkeits-Deal. Er besagt, dass sich die Mitarbeitenden redlich bemühen, einen guten Job zu machen und dass dafür die Führungskräfte mit den Fehlern der Mannschaft redlich umgehen. So kommt es, dass diese Sicherheitskultur im Deutschen auch als Redlichkeitskultur bezeichnet wird. Im Englischen, insbesondere in der Aviatik, hat sich der Begriff ‘Just Culture’ etabliert. Der angelsächsische Ausdruck deutet darauf hin, dass in einer solchen Kultur mit dem Fehler gerecht umgegangen wird. Gerecht heisst in diesem Zusammenhang, dass nicht nur einseitig das Versagen des Mitarbeiters beurteilt wird, sondern in gleichem Masse auch die mitverursachenden Faktoren, die im systemischen Kontext wirksam waren, miteinbezogen und analysiert werden. In einer Just Culture streben die Akteure eine Balance zwischen Lernen (Schwachstellen im System erkennen) und Verantwortung (Haftbarmachung des fehlbaren Individuums) an.
Vom gängigen Messen mit zwei Ellen
Letztlich geht es aber auch beim Lernen um Verantwortung. Denn wie wir wissen, sind in jedem ungewollt eingetretenen Ereignis systemische Unzulänglichkeiten mit im Spiel. Viele dieser systemischen Mängel haben die Führungskräfte zu verantworten. Doch diese stehen bei der Fallbearbeitung üblicherweise nicht zur Disposition. Schon gar nicht, wenn es um das Tragen der Mitverantwortung für Systemschwächen kommt. Denn wenn es ums Lernen geht, so sind damit gemeinhin die Fehlbaren gemeint, die an sich zu arbeiten haben. Wir hätten also in jedem ungewollt eingetretenen Ereignis Gründe genug, um sowohl das Management einer Firma als auch den mitverursachenden Mitarbeiter zu beschuldigen. Dass wir es bei der Beantwortung der Schuldfrage nicht tun und uns immer nur um die Verantwortung des Individuums kümmern, ist verwerflich und bestimmt nicht redlich. Zum guten Glück spielt die Schuldfrage im Zusammenhang mit der Verbesserung der Sicherheit keine Rolle. Denn wie wir sehen, kann sie es nicht richten. Unsere Gesetze wie auch die Rechtspflege (und leider immer noch viele Führungskräfte) gehen von einer generalpräventiven Wirkung der Strafe aus. Es wird angenommen, dass die Sicherheit damit verbessert wird. Wer so denkt, geht von einem irritierenden Menschbild aus. Er versteht den Menschen als Risikofaktor und verkennt damit, dass er der grösste Enabler der Sicherheit überhaupt ist. Hätte jeder Mitarbeiter einer High Reliability Organisation ein Konto, auf welchem ihm risikominimierende Handlungen einbezahlt und risikofördernde Taten abgezogen würden, wären sie alle am Ende ihrer Karriere im übertragenen Sinne Multimillionäre.
Zudem ist die Rechtspflege einäugig. Sie sieht mit Vorliebe nur den Menschen am scharfen Ende, der mit seiner Handlung in den Vorfall verwickelt ist. Sie erkennt all die Verantwortungsträger für das imperfekte System, welches den Kontext für die Arbeit des Mitarbeiters darstellt, nicht annähernd so präzise. Da sind die Gesetzte stumpf und der Wille, die schwachen Ansätze zum Tragen zu bringen, lahm. Wenn es um Sicherheit geht, dreht sich erfreulicherweise alles nur um die Ursachenfindung und nicht um die Schuldzuweisung. Da eine Just Culture nicht auf Gesetzen beruht, kann sie für sich in Anspruch nehmen, gerecht zu sein. Und das wiederum gelingt erstaunlich gut, weil sich in einer Just Culture bei der Bearbeitung von ungewollten Ereignissen sowohl das Management als auch das Individuum nicht der Schuldfrage stellen muss. Beide können sich ohne Angst der Ursachenfindung widmen und jede Partei kann für sich die Lehren ziehen.
Ein Ansatz, der Vertrauen schafft
Kehren wir zu Ihrer Mitarbeiterin zurück, die den verhängnisvollen Klick getätigt hat. Zurück zu Ihrem Verdacht, sie hätte eine inadäquate innere Arbeitshaltung. Ihre Skepsis ihr gegenüber ist nichts anderes als die schlimme Vermutung, die Mitarbeiterin hätte sich nicht an den Redlichkeits-Deal gehalten. Nehmen sie das zum Anlass, selbst vertragsbrüchig zu werden? Gibt ihnen dieser Verdacht den Freipass mit dem nachweislich unbeabsichtigten Arbeitsfehler der Mitarbeiterin unredlich umzugehen? Es ist Ihre Wahl. Sie stehen mit Ihrer Just Culture am Abgrund und können sie mit einem Urteil in die Schlucht stossen. Was ist Ihnen wichtiger? Die volle Unterstützung der Mitarbeiterin bei der Ursachenfindung zu haben, die sie ihnen gewährt, wenn Sie ihr keine Angst machen. Oder die Genugtuung über einen Urteilsspruch mit negativen Folgen für die Betroffene, der allen signalisiert, wer hier der Hahn auf dem Mist ist. Ist das Licht, dass auf Sie scheint, wenn Sie Macht ausüben, besonders hell? Was sind die wahren Gründe, die Sie in die Rolle des Richters drängen? Ist Ihnen die Regelung der Schuldfrage wichtiger als die Frage, wie Sie das Unternehmen vor weiteren Hackerangriffen schützen können? Ist es für Sie vorstellbar, dass die nicht bewiesene Schonhaltung der Mitarbeiterin die Auswirkung von systemischen Ursachen sein könnte, für die auch Sie Mitverantwortung tragen? Schaffen Sie es, sich diesen Fragen zu widmen oder bleiben Sie im alten Paradigma gefangen, welches das Problem beim Menschen sieht, es hilfreich schnell beseitigt und Sie davon befreit, sich unangenehmen Fragen zu stellen, die ihnen obendrauf sogar noch Ihre Mitverantwortung für das System so ärgerlich vor Augen führt?
Das Vorgefallene könnte eine ungeahnte Chance sein, Ihr Vertrauensverhältnis zu dieser Mitarbeiterin zu stärken. Es hat Potenzial für eine Bestätigung und Weiterentwicklung der Redlichkeitskultur im Unternehmen. Diese braucht Führungskräfte, die sich dem Challenge stellen und die ihre Rolle in Sachen Safety kennen. Vorgesetzte, die wissen, dass sie die Sicherheit der Organisation nicht an eine Sicherheitsabteilung delegieren können. Denn Kultur machen Sie als Riskowner und nicht die Safety-Spezialisten.
Wie Sie sehen, können gute Vorsätze für das neue Jahr viel bewirken, wenn sie in der Lage sind, den Lackmustest, der der Alltag immer wieder bereithält, zu bestehen.