Demut

Manchmal lehren uns Geschichten mehr als lange Theorien. Wenn es um Führung geht, sind die Theorien besonders lang… Hier ist eine Geschichte, die Führungskräften eingebunden in anspruchsvolle heutige Settings Denkanstösse zu geben vermag.

Immer wieder finden wir in der Geschichte Ereignisse, die eine neue Ära einläuten und als Wegmarken für bedeutungsvolle Entwicklungen dienen. Die tragische Crash-Landung einer United DC-10 in Sioux City im Jahre 1989 ist ein solcher Event. Dieses Vorkommnis markierte den Umbruch eines überholten Führungsverständnisses in der Luftfahrt in eine zeitgemässe Form der Führung.

United Flug 232

Was war geschehen? Die Maschine befand sich in 10'000 Meter Höhe im Reiseflug zwischen Denver und Philadelphia, als das mittlere der drei Triebwerke explosionsartig desintegrierte und herumfliegende Teile alle drei Hydrauliksysteme beschädigten. Das Flugzeug war ab diesem Zeitpunkt praktisch unsteuerbar. Im Cockpit befand sich Cptn Haynes, der erste Offizier und der Bordingenieur. Es gelang den beiden Piloten, die Maschine in einer sinkenden Kurve zu halten, indem sie die Steuersäule mit maximaler Körperkraft nach hinten zogen und sich mit vollem Querruderausschlag gegen die Kurve stemmten. Mehr war nicht drin. Der Absturz war nur eine Sache der Zeit, bis die Maschine so kurvend auf den Boden aufschlagen würde. In der Not erinnerte sich Captn Haynes an den als Passagier mitfliegenden DC-10-Fluglehrer an Bord und bot ihn zur Hilfe auf. Diesem gelang es vom mittleren Sitz aus im Cockpit, mit den beiden Schubreglern der noch funktionstüchtigen Flügeltriebwerke, die Maschine zu steuern. Wobei es sich dabei eher um ein grobes Richtungsweisen mit einer sehr unpräzisen Sinkratensteuerung handelte.

In einer später nicht mehr reproduzierbaren Höchstleistung gelang es den vier Cokpitmitgliedern die DC-10 im Gelände des Sioux Gateway Airports in Iowa zu Boden zu bringen. Von einer Landung konnte nicht dir Rede sein. Beim Aufschlag drehte sich die Maschine auf den Rücken, fing Feuer und zerbrach in vier Teile. Von den 296 Personen an Bord des Flugzeuges kamen 111 ums Leben. 185 Menschen überlebten hingegen das Unglück. Es gab ein paar begünstigende Umstände, die die Opferzahl minimierten. Den bedeutendsten Aspekt erklärte Cptn Haynes nach dem Vorfall wie folgt: "Bis in die 80-er Jahre war der Kapitän die Autorität an Bord. Was er sagte, das hatte Gültigkeit. So haben wir einige Flugzeuge verloren. Manchmal war der Kapitän nicht so gut wie wir alle glaubten. In Sioux City wusste keiner von uns was zu tun war. Wieso hätte ausgerechnet ich wissen müssen, wie wir vorzugehen haben? Aber wir vier hatten zusammen 103 Jahre Piloten-Erfahrung. Indem sich jeder voll einbringen konnte, haben wir es geschafft die DC-10 in Sioux City zu Boden zu bringen.“

Ein neues Führungsverständnis

Hier spricht eine Führungskraft, die sich und all ihren Mitarbeitenden nicht vormacht, sie wäre Herr über alle Situationen. Cptn Hayens hat mit dieser Aussage offen mit dem Heldenmythos der "Götter in Blau" gebrochen. Er weigert sich nicht nur, im Nachhinein seine persönliche Leistung herauszustreichen. Sondern er begegnet seiner Herausforderung aus einer demütigen inneren Haltung heraus. Es ist diese Haltung, die die erforderliche und erfolgreiche Teamarbeit erst möglich machte. Eine Haltung, die es ihm nicht erlaubt, nur weil er Chef ist, etwas zu tun, das nicht eine brauchbare Antwort auf die Problemstellung wäre. Er nutzt seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen auf optimale Weise und lässt es nicht zu, dass ihn sein Ego lieber in einer besonders angesehenen Rolle sähe. Sein Uniform-Jackett mit den vier Streifen und sein Kapitänshut sind hinten in der Garderobe gut aufgehoben. Dort können sie keine Kollateralschäden anrichten.

Warum wir keine Helden mehr brauchen

Was hier in der Notsituation auf extreme Weise dargestellt wird und kantig zum Vorschein kommt, spielt sich tausendfach in hochkomplexen Arbeits- und Führungsumfeldern im Normalbetrieb ab. In Sioux City konfrontiert die Notlage eine Führungskraft und verlangt von ihr eine Lösung für ein Problem, das sie nicht kennt. Anderswo verlangt ein gnadenloser Wettbewerb eine Adaptations- und Innovationsfähigkeit vom Unternehmen und seinen Führungskräften und ruft so nach Lösungen, die sie noch nicht kennen. Letztlich handelt es sich um den gleichen Kontext, in welchem 'Führung' auf eine spezielle Art und Weise gefragt ist. Nicht nur von der Krise gefordert, sondern auch vom Anpassungs- und Innovationsdruck drängen sich Diversity, Inclusion, kollaboratives Führungsverständnis, agiles Management und die damit verbundenen sozialen Kompetenzen der Führungskraft so prominent in den Vordergrund. Sie alle sind wichtige Elemente einer ressourcenorientierten Führung. Wenn ich als Chef oder Experte nicht weiss, wie die Antwort auf das Problem lautet, hilft mir der Heldensockel, auf dem ich stehe herzlich wenig. Wenn es mir in solchen Situationen oder Umfeldern nicht gelingt herunterzusteigen, wird es gefährlich. Dann wird die kumulierte Macht der Helden zum Risiko für das Unternehmen. Denn es besteht die Gefahr, dass Dinge getan werden, die nicht für die Problemlösung gedacht sind, sondern für den Machterhalt oder das Face-keeping der Führung. In meinen diversen Engagements als Coach und Ausbildner von Krisenstäben wurde und werde ich immer wieder Zeuge solcher fehlgeleiteten Handlungen von Verantwortungsträgern. Da die Begebenheiten für alle Beteiligten stets transparent sind, sind sie auch die Auslöser von peniblen Peinlichkeiten oder gar Frust im Team.

Demut als Basis

Demut schützt Führungskräfte und Spezialisten vor solch gefährlichen Eskapaden. Sie hilft ihnen, ihre Erwartungen an ihre Leistung frei von formalen oder organisatorischen Ansprüchen zu sehen und öffnet den Blick auf das, was es zu tun gilt. Keine Politik, keine Fassandenschiebereien und keine Cover-Your-Ass-Strategien. Demut befreit Verantwortungsträger von solchen korrosiven Selbstschutzmechanismen und erlaubt ihnen einen authentischen Auftritt, der sie nahbar und verletzlich macht. Ja, es ist so: Wer nahbar und verletzlich ist, dem wird Vertrauen geschenkt. Demut macht aus Helden Teamplayer.

Was noch bis heute von vielen Führungskräften oder Experten als 'der-Sache-nicht-gewachsen sein' oder gar als Versagen interpretiert wird, hat in Sioux City den Erfolgsbeweis erbracht. Der Vorfall lehrt alle, die sich gerne in ihren Fachkompetenzen sonnen und ihre Macht damit legitimieren etwas anderes.

Demut legt den Boden für eine Haltung, die sich nicht anmasst, für jedes Problem eine Lösung zu haben oder stets die Kontrolle über alles aufrecht erhalten zu können. Sie basiert auf dem ehrlichen Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit und der persönlichen Überforderung als Individuum in komplexen Systemen oder herausfordernden Situationen, in Umfeldern mit bedrohlichem Innovationsdruck oder in krisenhaften Zuständen.

Eine demütige Haltung hilft auch jenen Führungskräften, die in Hochrisiko-Organisationen die Verantwortung tragen. Hier hilft der demütige und ehrfürchtige Blick auf ein komplexes System, welches in der Regel zwar hoch reguliert ist, aber in all seinen Facetten und sich überlagernden, sich gegenseitig beeinflussenden Funktionen nicht mehr holistisch verstanden werden kann. Diese innere Einstellung erlaubt es den Führungskräften, eine angstfreie Atmosphäre, eine Kultur des Vertrauens zu schaffen. Indem sie ein Umfeld der psychologischen Sicherheit etablieren, sorgen sie dafür, dass die Information reibungsfrei in der Organisation fliesst. Horizontal wie vertikal. In hochkomplexen Umfeldern führt dies dazu, dass die Schwachpunkte des Systems gemeldet werden. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für den kontinuierlichen Lernprozess und damit für die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Organisation.

Was gilt es zu tun, wenn Führungskräfte überfordert sind?

Nun, überfordert sind sie nur, wenn sie ein Führungsverständnis hochhalten, welches sie ausschliesslich für das Resultat verantwortlich macht. Ein solch output-orientiertes Verständnis kann in einfachen und linearen Umfeldern und Systemen Sinn ergeben. Es wird aber in komplexen und vernetzten Situationen, die durch eine hohe wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnet sind, zur völligen Überforderung. Wo wir in einfachen Systemen steuern und kontrollieren können, sind wir in komplexen Systemen und in Krisen auf die Einflussnahme beschränkt. Die Vielfalt und die Vernetzung der Einflüsse nehmen da der Steuerung und der Kontrolle ihre Kraft. Eine demütige Haltung kann der Führungskraft helfen, sich von der historisch verankerten Resultatsorientierung zu lösen. Die Rolle, die ihr in komplexen, vernetzten und von Anpassungsdruck gekennzeichneten Umfeldern zufällt, ist dem Zustandekommen von Resultaten gewidmet. Führungskräfte sind für sämtliche Prozesse, Strukturen und kulturellen Rahmenbedingungen verantwortlich, die das Ermöglichen von guten Lösungen optimiert. Sie sind da, um Zusammenarbeit zu organisieren. So, dass sämtliche Ressourcen des Unternehmens auf optimale Weise zum Tragen kommen. Wir tun also gut daran, nicht wie gebannt nur das Resultat im Blick zu haben, sondern bei der Leistungsbeurteilung von Führungskräften je länger je mehr ihre Fähigkeiten zu bewerten, die für das Zustandekommen des Resultats massgeblich waren.

Ohne Vertrauen schaffen sie das nicht. Ohne Sinnstiftung auch nicht. Und ohne Demut dürfte es schwierig sein.

Endlich Weihnachten!

Glücklicherweise stehen die Festtage vor der Tür. Sie bieten uns die Möglichkeit, über Dinge nachzudenken, die im Alltag verständlicherweise zu kurz kommen. Weihnachten aber bildet als Fest der Liebe einen geradezu idealen Rahmen, um die Gedanken rund um die Tugend der Demut kreisen zu lassen. Das aus dem Hochdeutschen 'diomuoti' (Gesinnung eines Dienenden) stammende Wort hat einiges in sich, wenn es um die Klärung des eigenen Führungsverständnisses geht. Ich wünsche allen Leserinnen und Leser dieses Blogs frohe Weihnachten und einen erfolgreichen, weil entspannt angegangenen Start ins neue Jahr.