Bundesgericht spricht Fluglotse frei – hat die Justiz ihre Praxis geändert?

Trotz Freispruch bleibt das Damoklesschwert der Justiz über den Mitarbeitenden der High Reliability Organization hängen.

Der Freispruch des Fluglotsen durch das Bundesgericht vom 29. Oktober 2019 hat in der Luftfahrtbranche zur Erleichterung geführt. Doch bei genauerer Betrachtung trügt der Anschein. Wir können nicht davon ausgehen, dass die gängige Praxis eine Veränderung erfahren hat. Solange die Urteile mit der bisherigen Varianz gefällt werden, besteht kein Grund zur Hoffnung. Die Sicherheitskultur in den Luftfahrtunternehmen bleibt weiterhin unter Druck.

Eine hypothetische Gefahr ist kein Grund für eine Bestrafung

Der Freispruch erfolgte im Zusammenhang mit einem Vorfall auf dem Flughafen Zürich. Ein Lotse von Skyguide erteilte am 15. März 2011 kurz hintereinander zwei Flugzeugen die Starterlaubnis auf zwei sich kreuzenden Pisten. Die Besatzung eines der beiden Flugzeuge erkannte die sich anbahnende Gefahr und brach den Start ab. Die konkrete Gefahr einer Kollision bestand nicht. Gemäss Gutachter sind sich die Flugzeuge "nicht allzu nahe" gekommen. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland erhob Anklage gegen den Flugverkehrsleiter. Erstinstanzlich wurde er freigesprochen. Nach einem Weiterzug ans Obergericht, verurteilte dieses den Lotsen zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen. Das Bundesgericht hat ihn nun mit seinem Urteil vom 29.10.19 freigesprochen.

In seinen Erwägungen setzte sich das Bundesgericht näher mit der «konkreten Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Integrität einer am öffentlichen Verkehr teilnehmenden Person» auseinander. Es hält dazu fest: «Die Frage, ob es zu einer konkreten Gefahr für Menschen gekommen ist, betrifft weder den Sachverhalt noch eine rein technische Frage, sondern ist eine Rechtsfrage».  Damit ist das Bundesgericht legitimiert, unabhängig vom Verlauf der Geschehnisse (Sachverhalt), welche gestützt auf technische Fakten und Daten eine Objektivität ergeben, die Gefährdung zu beurteilen.

Interessanterweise tut es das aber im vorliegenden Fall gar nicht. Es stellt ‘lediglich’ fest, dass eine Anklage, die sich auf eine hypothetische Gefahr bezieht, nicht statthaft ist. Somit verletzt, die auf einer hypothetischen Gefahr beruhende Verurteilung des Lotsen durch das Zürcher Obergericht, Bundesgesetz.

Die Gerichte sind sich nicht darüber einig, was als ‘gefährlich’ einzustufen ist

Eine Analyse der letzten beiden Urteile des Bundesgerichts, die im Zusammenhang mit Fehlverhalten von Fluglotsen gefällt wurden, veranschaulicht das Problem, mit welchem die Akteure der schweizerischen Luftfahrt nach wie vor konfrontiert sind.

In seiner Erwägung des Vorfalls vom 15.März 2011 setzt sich das Bundesgericht mit einer möglichen Gefährdung der involvierten Personen auseinander, die durch den Startabbruch hätte gegeben sein können. Im Urteil ist u.a. folgendes darüber zu lesen: «Auch im Umstand, dass die Bremsen des Flugzeugs heiss würden und zur Kühlung derselben die Feuerwehr habe aufgeboten werden müssen, liege keine Gefahr für die Besatzung und Passagiere des Flugzeugs SWR 202W. Dies sei normal und gehöre zur Routine; eine Gefahr für Leib und Leben der Flugzeuginsassen sei vernachlässigbar klein». Der Umstand, dass im Luftverkehr bei einem Startabbruch die Bremsen so stark aufgeheizt werden können, dass diese zu brennen beginnen und die Feuerwehr zum Löschen aufgeboten werden muss, wird nicht als Gefährdung betrachtet. Das ist folgerichtig, ist doch der Startabbruch ein zertifiziertes Manöver, für das der Flugzeughersteller den Beweis erbringen muss, dass ein Feuer an den Bremsen den Insassen nicht gefährlich werden kann. So heisst es in der dafür gültigen Zertifikationsrichtlinie: “Small brake fires are acceptable as long as they do not spread to the airplane body within five minutes (the maximum likely time for arrival of the airport fire fighters). Im vorliegenden Fall honoriert das Bundesgericht die von den Behörden angeordnete Risikomitigation. (Das ist insofern bemerkenswert, als im Urteil der Vorinstanz nachzulesen ist, dass ein Startabbruch von den kantonalen Richtern als ein sehr gefährliches Manöver eingestuft wurde.)

Zu einem ganz anderen Schluss kommt das Bundesgericht beim Vorfall, welcher von ihm am 27. Juni  2019 beurteilt wurde. In jenem Fall ging es um eine gefährliche Annäherung zweier Flugzeuge in der Luftstrasse, die ein Lotse der Skyguide verursacht hatte. Das Gericht verurteilte ihn.

Wie Routine-Manöver vom Gericht als gefährlich taxiert werden

In diesem Fall stützte sich das Bundesgericht bei der Einschätzung der Gefahr auf die Beurteilung der SUST (Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle). Damit wurde die technische Einschätzung der Gefährdung, welche die SUST gemacht hatte, zur Grundlage für das Urteil des Bundesgerichts. Mit dieser Begründung wird die SUST instrumentalisiert. Denn der alleinige Zweck der Untersuchungen von Flugunfällen oder von schweren Vorfällen ist die Verhütung von Unfällen oder von schweren Vorfällen. So geht jedem Untersuchungsbericht auch der Hinweis voraus, «…dass die rechtliche Würdigung der Umstände und Ursachen von Flugunfällen und schweren Vorfällen ausdrücklich nicht Gegenstand der Flugunfalluntersuchung ist. Es ist daher auch nicht Zweck der Berichte, ein Verschulden festzustellen oder Haftungsfragen zu klären. Werden SUST-Berichte zu anderen Zwecken als zur Unfallverhütung verwendet, ist diesem Umstand gebührend Rechnung zu tragen». Es entspricht der gängigen Praxis der SUST, Annäherungen wie jene beim Vorfall in der Luftstrasse, als Kategorie A -Vorfall zu taxieren ("Risk of collision. The risk classification of an aircraft proximity in which serious risk of collision has existed"). Wenn es aber um die Einschätzung der konkreten Gefährdung geht, dann kann diese nicht höher sein als bei einem Vorfall in welchem Bremsen eines Flugzeugs nach einem Startabbruch zu brennen beginnen. Denn in beiden Fällen greift ein von der Aufsichtsbehörde festgelegter Puffer, welcher das Risiko objektiv und in genügendem Masse mitigiert. Das Verkehrswarn- und Kollisionsverhinderungssystem im Flugzeug ist so ausgelegt, dass bei der Befolgung des Ausweichbefehl keine Gefährdung entstehen kann. Wäre dem nicht so, wären die Algorithmen dieser Geräte wohl nicht zertifizierbar. Sie stehen aber im weltweiten Einsatz und verhindern erfolgreich, sich anbahnende Gefährdungen. In Anlehnung an die Beurteilung der Gefährdung durch brennende Bremsen könnte hier genauso gut argumentiert werden, dass das Ausweichmanöver normal sein und zur Routine gehöre; eine Gefahr für Leib und Leben der Flugzeuginsassen ist vernachlässigbar klein». Aus dieser Perspektive stützt sich das Urteil des Bundesgerichts genauso auf eine rein hypothetische Gefahr. Real hat sie nie stattgefunden. Denn das Ausweichmanöver wird von den Piloten im gleichen Mass trainiert wie der Startabbruch. Bei beiden handelt es sich um normale, Prozeduren, die zur Routine gehören und sinnigerweise untrennbar mit dem Betrieb eines Flugzeuges verbunden sind.

Die Justiz ist auf einem Auge blind - eine Anpassung der Gesetze tut Not

Diese Auseinandersetzung mit einem erwiesenermassen schwierigen Thema verdeutlicht, dass es uns Menschen heute schwerfällt, das Handeln von Experten an der Front in hochkomplexen Systemen ‘richtig’ zu taxieren. Es ist dies wohl der Grund für die Varianz in der juristischen Beurteilung. Hält diese Varianz weiter an, gibt es bei den Betroffenen in der schweizerischen Luftfahrt keinen Grund zur Erleichterung oder gar Hoffnung. Im Gegenteil. Die Urteile hängen wie ein Damoklesschwert über den Akteuren in der Luftfahrt und schaden den Sicherheitskulturen in den Unternehmen. Solange wir in der Schweiz die gesetzlichen Grundlagen nicht den heutigen Verhältnissen anpassen und diese nicht zumindest mit dem europäischen Gesetz zur Förderung der ‘Just Culture’ alignieren, welches klare Vorgaben zum Schutz der Meldeperson macht, wird sich hierzulande nichts ändern.

Trotz ihrer Varianz haben die Urteile des Bundesgerichts einen gemeinsamen Nenner. Sie betrachten immer nur eine Seite der ‘Gleichung’, das Individuum mit seiner Fehlbarkeit. Der andere Teil der Gleichung, das hochkomplexe System, welches das Umfeld der Experten darstellt, bleibt unangetastet. Es erstaunt, dass die Rechtspflege in der Schweiz die Themen nicht aufgreift, die 2012 anlässlich der ‘Sicherheitsüberprüfung des Flughafen Zürich’ einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Es handelt sich dabei um acht schwerwiegende, gefährliche Hotspots in Zürich, welche systemisch angelegt sind. Sie bestehen heute noch. Tagtäglich sind Fluglotsen, Piloten und viele andere Mitarbeitende, die zu einem sicheren Flugbetrieb beitragen, mit den gefährlichen Konstellationen konfrontiert. Diese reichen von der geringen Fehlertoleranz des Systems aufgrund der hohen Komplexität über das inadäquate Design des Luftraums und der dazugehörigen Verfahren, bis hin zu mehreren Betriebskonzepten, die aufgrund nicht aviatischer Grundlagen angewendet werden müssen. Diese Hotspots gefährden objektiv tagtäglich tausende Passagiere, Mitarbeiter und Anwohner. Nicht einer dieser Hotspots wurde von der Rechtspflege adressiert. Das System bleibt damit genau gleich gefährlich wie es schon 2012 war. Das einzige was getan wird, ist das Anklagen und fallweise verurteilen von Individuen, die sich tagtäglich diesem fehleranfälligen System stellen. In Anbetracht der Schwere dieser Systemschwächen fragt es sich, in wie fern wir mit diesem einseitigen Zur-Rechenschaft-ziehen des Individuums an der Front eine ethische Grenze überschreiten, indem wir den Handelnden eine Verantwortung übertragen, die sie letztlich gar nicht tragen können.

Die Staatsanwaltschaft klagt Individuen an und die Gerichte verurteilen sie fallweise. Sie alle tun dies, so hoffen wir doch, um damit die Sicherheit zu erhöhen. Früher einmal, war das bestimmt ein zielführender Ansatz. Zu einer Zeit wo wir die Kausalität zwischen Handlung und Wirkung noch überschauen konnten. Doch heute? Heute muss sich dieser Ansatz den Vorwurf der Einäugigkeit gefallen lassen. Die Systeme, die wir Menschen beispielsweise in der Luftfahrt gebaut haben, sind komplex. Was nichts anderes heisst, als dass wir Ursache und Wirkung entkoppelt haben.  Wenn es uns nicht gelingt, die gefährlichen Hotspots in ihnen zu entfernen, und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sie bei vollem Wissen dulden, dann wird es der Rechtspflege nicht möglich sein, ‘gerechte’ Urteile zu fällen, ganz zu schweigen von der Illusion, mit Bestrafung von Individuen am scharfen Ende, einen wirkungsvollen Beitrag zur Sicherheit zu leisten.