Martin Wyler | Wyler Safety Consulting GmbH https://www.martin-wyler.ch failure is no option de-de Martin Wyler | Wyler Safety Consulting GmbH Wed, 28 Feb 2024 08:58:55 +0100 Wed, 28 Feb 2024 08:58:55 +0100 Martin Wyler | Wyler Safety Consulting GmbH Martin Wyler | Wyler Safety Consulting GmbH news-91 Sun, 04 Feb 2024 16:30:00 +0100 Die Pistenverlängerungen – Lichtblick für die Sicherheit https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/die-pistenverlaengerungen-lichtblick-fuer-die-sicherheit/ Am 3. März 24 stimmt die Bevölkerung des Kantons Zürich über die Pistenverlängerungen ab. Damit wird sie aufgefordert, Verantwortung für die Sicherheit des Flughafens zu übernehmen. Als Schweizerinnen und Schweizer sind wir in unserer direkten Demokratie gewohnt, mit unseren Stimmzetteln Weichen zu stellen. Wir wissen auch, dass jede Wahl mit Konsequenzen verbunden ist, die wir bereit sind zu tragen. Bevor wir diesmal ein Ja oder Nein auf den Stimmzettel schreiben, sind wir gut beraten, wenn wir uns fragen, ob wir damit leben können, wenn sich künftig ein Flugunfall am Flughafen Zürich ereignet und der Unfallbericht der Behörden als mitverursachenden Grund die Komplexität des Flughafens Zürich aufführt.

Der Hauptgrund und Auslöser für die Pistenverlängerungen sind die 2012 in einer Sicherheitsprüfung dargelegten grossen acht Risiken. Es sind diese Risiken, mit denen die Fluglotsen, Piloten und das ganze Betriebspersonal am Flughafen Zürich tagtäglich zu kämpfen haben. Sie müssen sich in einem System bewegen, das sich weit weg vom Zustand einer systemisch verankerten Sicherheit befindet. Die ‘Fallen’ sind an acht Stellen tagtäglich gestellt und müssen von Menschen mit ihrer Fehlbarkeit aktiv umgangen werden. Das Unangenehme an den Tätigkeiten in der Luftfahrt ist der Umstand, dass die Akteure innert Sekunden in eine Situation geraten können, die sie überfordert. Wer sich davon ein Bild machen möchte, dem empfehle ich die Lektüre der SUST-Berichte der Vorfälle der letzten Jahre am Flughafen Zürich. Einige waren so gravierend, dass sich sogar der Staat einmischte und es zu Verurteilungen von Fluglotsen kam. Wie wenn damit das System Flughafen sicherer gemacht würde. Es braucht schon Mut, wenn man sich in einem so komplexen System auf die Unfehlbarkeit der Akteure stützt. Verfolgt man die Diskussionen um das selbstfahrende Auto, wir einem klar, dass hier ganz andere Ansprüche an die systemische Sicherheit gestellt werden. Hätten wir die Möglichkeit, mit unserer Stimme dafür zu sorgen, dass nur ein System zugelassen wird, welches die Fehlbarkeit der Fahrerinnen und Fahrer sicher eingrenzt, wäre die Wahl zwischen Ja und Nein schnell gefällt.

Die Gefahr der Komplexität

Doch davon ist der Flughafen Zürich weit entfernt. So lautet der erste der acht Top-Hazards in der erwähnten Sicherheitsüberprüfung: «Reduced margin of error due to high operational complexity». Was nichts anderes heisst, als dass die Fehlertoleranz für die Akteure gering ist und nicht der Norm entspricht. Macht sich heute wirklich noch jemand vor, dass ein solch schmaler Puffer bis zum Unfall von tausenden Menschen im Cockpit und an der Radarkonsole an 365 Tagen im Jahr bei allen Wetterlagen über Jahrzehnte hinweg nie in Anspruch genommen werden muss? Nur schon der erste Top-Hazard ist Grund genug, ins Handeln zu kommen. Wer sich die anderen sieben noch zutraut, braucht starke Nerven.

Dies gesagt, erstaunt es mich immer wieder, wie Volksvertreterinnen und Vertreter mit Inbrunst verkünden, dass der Flughafen Zürich sicher sei. Wie bringt man es fertig, die beiden schweren Unfälle mit vielen Toten in den Zweitausender Jahren ohne Scham zu verdrängen? Ich bin mir fast sicher, dass es ihnen beim Einsteigen in ein Flugzeug mulmig wird, wenn sie sich zuvor die acht Top-Hazards am Flughafen Zürich zu Gemüte geführt haben.

Was bedeutet ‘Sicherheit’?

Die Abwesenheit von Unfällen in der unmittelbar zurückliegenden Zeit bedeutet nicht Sicherheit. Sicherheit ist kein Zustand. Falls er das wäre, wäre er mit dem, Zustand von zwei aufeinanderliegenden Kugeln vergleichbar. Ohne dass wir sie kontinuierlich mit stützenden Einflüssen stabilisieren, würde die obere herunterfallen. Sicherheit kann als ein laufender Prozess der Risiko-Mitigation definiert werden. Wir können nie sagen, dass etwas sicher ist. Wir können nur sagen, ob das, was wir tun, die Sicherheit positiv oder negativ beeinflusst.

Verantwortung für die Sicherheit übernehmen

Wir erhalten mit dieser Abstimmung wahrscheinlich nur einmal im Leben eine Gelegenheit, Verantwortung für die Sicherheit am Flughafen Zürich zu übernehmen. Denn Ausbauten an der Infrastruktur sind aufwendige Geschäfte und die Bewilligungsverfahren erstrecken sich auf viele Jahre. Wir haben es mit einem enorm trägen System zu tun, welches jede Agilität vermissen lässt, die für die Aufrechterhaltung der Sicherheit eines derart komplexen Gefüges von Nöten wäre. Arbeit am System war noch nie leicht. Sie wird aber zunehmend bedeutungsvoll, denn wir Menschen haben es geschafft, soziotechnische Systeme aufzubauen, die wir nur nurmehr mit grosser Mühe verstehen, geschweige denn wirklich kontrollieren können. Diesbezüglich sind die Pistenverlängerungen ein Lichtblick und eine Chance zugleich.

Natürlich können sie mit Gottvertrauen am 3. März die Pistenverlängerungen ablehnen. Doch das wird sie nicht davor bewahrten, die Mitverantwortung für künftige Unfälle am Flughafen Zürich zu übernehmen.

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news-89 Sat, 24 Dec 2022 14:00:00 +0100 Patrouille Suisse: Ein Gerichtsurteil aus einer längst vergangenen Zeit https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/patrouille-suisse-ein-gerichtsurteil-aus-einer-laengst-vergangenen-zeit/ Am 22.12.2022 wurde der Pilot der Patrouille Suisse zu einer Geldstrafe verurteilt, der 2016 im Training einen seiner Kollegen im Verbandsflug gestreift hatte. Er musste sich mit dem Schleudersitz retten, sein Kollege konnte seine beschädigte Maschine wohlbehalten landen. Der Ankläger beschuldigte ihn wegen fahrlässigen Missbrauchs und Verschleuderung von Material, der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs und wegen mehrfacher fahrlässiger Nichtbefolgung von Dienstvorschriften. Das Urteil ist aus der Zeit gefallen und schadet der Sache. Warum?

Verurteilt wurde der Pilot wegen fahrlässigen Missbrauchs und Verschleuderung von Material. Von den anderen Anklagepunkten sah das Gericht ab. Für die Luftfahrt und letztlich für alle anderen Hochrisiko-Organisationen in der Schweiz aber ist der Umstand von Bedeutung, dass das Gericht bei diesem Vorfall ein schuldhaftes Verhalten geltend macht. Dies auch wenn der vorliegende Schuldspruch von einem Militärgericht stammt. Denn das Urteil reiht sich in die unerfreulichen Entscheide diverser ziviler Gerichte (bis hin zum Bundesgericht) ein, welche Fluglotsen für Fehlverhalten bestraften, welche weder vorsätzlich noch grobfahrlässig waren. Auch im vorliegenden Fall ist nichts von Grobfahrlässigkeit oder Vorsatz im Spiel. Damit offenbart uns auch dieses Urteil, dass die Schweizer Gerichte Mühe bekunden, die Bedeutung des menschlichen Handelns in hochkomplexen Systemen und in äusserst spezifischen Situationen auch nur annähernd zu verstehen und sich auf Gesetze stützen (müssen), die geschrieben wurden als die Welt noch ganz anders aussah.  

Wer Fehler macht wird bestraft. Ein Paradigma das Kollateralschäden verursacht.

Die Konsequenzen dieser Schuldsprüche sind für die betroffenen Organisationen erheblich, weil sie einerseits dazu führen, dass die Mitarbeitenden und die Führungskräfte sich jeglicher Exposition entziehen, keine Verantwortung mehr übernehmen und nur noch genau das tun, was man ihnen sagt. An eindrücklich mitreissende Flugvorführungen ist in einer so gestalteten Angstkultur nicht mehr zu denken. Solche Schuldsprüche fördern die unselige Compliance-Orientierung und die Cover-My-Ass-Strategie, die die Selbstverantwortung aus dem Unternehmen treibt und die eine Mannschaft im Untertanen-Modus zurücklässt. Deutschland lässt grüssen. Eine solche Kultur ist für eine Air Force der Anfang des Untergangs. Denn sie muss auf Menschen zählen können, die unter extremen Belastungen die Bereitschaft haben, Entscheide zu fällen, die zielführend sind. Menschen, die nicht bei der kleinsten Unsicherheit den Vorgesetzten um Rat fragen oder in den Büchern des Regelwerks nach Orientierung suchen.

Der doppelbödige Umgang mit Risiken

Und andererseits hinterlassen solche Schuldsprüche wie im vorliegenden Fall einen schalen Nachgeschmack. Denn Display-Fliegerei ist per se eine gefährliche Angelegenheit. Eine aber, die der Staat aus nachvollziehbaren Gründen nicht nur toleriert, sondern unterstützt. Wenn sich dabei ein Vorfall ereignet, wird ein Individuum bestraft und der ganze Kontext und damit auch der öffentliche Wunsch nach Formations-Displays spielt plötzlich keine Rolle mehr. Das ist eine unanständige Verkürzung. Oder bestrafen Sie ihre Kinder auch, wenn Sie sie ermuntert haben, selbst einen Kuchen zu backen und sie sich dann dabei die Finger am Ofen verbrennen? Am eben gefällten Schuldspruch offenbart sich die Doppelbödigkeit der Gesellschaft im Umgang mit Risiken auf exemplarische Weise. Das System hat ein Opfer gefunden, die Spiele aber sollen weitergehen. Ist das noch redlich?

Verantwortung in der Hochrisiko-Organisation

Von wegen Kontext: Im vorliegenden Fall war der angeklagte Pilot der Anciennität-Jüngste im Team. Er wurde von der F/A 18 auf den F-5 geschult, um in der Patrouille Suisse fliegen zu können. Seine Erfahrung auf der ‘Tiger F-5’ war dementsprechend klein. Das Vorführ-Programm sah 2016 für ihn (Nummer drei) und die Nummer zwei, beides Einstiegspositionen im Verband, neu Aufschliessmanöver vor, die früher den Youngstern nicht zugemutet wurden. Das Aufschliessen in einen Verband ist mithin das fliegerisch anspruchsvollste Manöver. Das in einem solchen Kontext auch ein hart gesottener Hornet-Pilot in eine kurzfristige Überforderung kommen kann, darf nicht erstaunen. Und wer diese Vorstellung nicht an sich heranlässt, hat keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, wenn man mit 500 km/h in einer sinkenden Kurve unter Beschleunigung den Kopf ganz ausgedreht, um Sichtkontakt wahren zu können, sich in die Formation einzugliedern versucht. Wer dann sagt, man habe sich an das Reglement zu halten, welches von einem stets einen Mindestabstand von drei Metern verlangt, der outet sich als realitätsfremder Verwalter und Compliance-Papst. Dieses Unvermögen des Gerichts, sich in die Situation hineinzuversetzen, war im Gerichtssaal bei der Zeugeneinvernahme mit Händen zu greifen. Nicht, dass sich die Richter nicht redlich bemüht hätten, die Situation zu begreifen. Nur, wie erklären sie einem Laien in zehn Minuten eine Disziplin für die Experten mehrere Jahre gebraucht haben, um sie zu erlernen? Es war geradezu grotesk. Und man darf es den Richtern wirklich nicht übel nehmen, dass sie bis am Schluss den Unterschied von der Flugbahn eines Flugzeuges, die von der Horizontalen abweicht, nicht von jener unterscheiden konnten, die von der Ebne des vorausfliegenden Flugzeuges nach oben oder unten abweicht. Aber das System lässt es zu, ja verlangt von ihnen, dass sie trotzdem urteilen. Und sie müssen dabei auf den Mann spielen. Das Strafgesetz will es so. Es versteht die Handlungen eines Menschen stets und immer noch als vom System unberührt, welches den Menschen umgibt. Das ist in einer Zeit, in welcher wir den Menschen in hochkomplexen Systemen tief in die Abläufe der Systeme miteinbeziehen eine nicht mehr entschuldbare Unterlassung. Oder glaubt den jemand noch ein Mensch wäre allein in der Lage, einen 500 Tonnen schweren Verkehrsflieger bei allen denkbaren Wetter- und Umwelteinflüssen selbstständig in Flügen über 4000 Meilen ohne massive Unterstützung von technischen Systemen ans Ziel zu bringen? Und glaubt denn jemand ernsthaft noch, dass diese Systeme auf eine Weise mit dem Piloten interagieren, ohne seine 100% Kontrolle zu kompromittieren? Ist es redlich, einen solchen Menschen ungeachtet der ihn unterstützenden Systeme immer und konsequent voll für das Resultat verantwortlich zu machen? Nein, ist es nicht. Es ist aus einer moralischen Perspektive unhaltbar.

Nachholbedarf beim Strafrecht

Das Strafrecht ist alt, uralt. Das zeigt sich nicht nur an der kategorischen Ausschliessung der systemischen und Resultat mitbeeinflussenden Komponenten, sondern auch in seinen Begrifflichkeiten. Der Pilot wurde im vorliegenden Fall wegen ‘fahrlässigen Missbrauchs und Verschleuderung von Material’ angeklagt. Ich weiss nicht, wie es Ihnen mit diesen Begriffen geht. Für mich haben sie eigentlich keinen Zusammenhang mit dem Vorgefallenen. Ich sehe nicht, inwiefern der Pilot das Flugzeug für andere als Vorführungszwecke genutzt (gebraucht) haben soll und er sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben soll. Auch braucht es in meinem Verständnis, um Material zu verschleudern, eine bösartige Absicht, Material rücksichtslos loszuwerden. Den Vorsatz hatte ihm nicht einmal der Ankläger unterstellt. Dass sich mein Sprachverständnis nicht mit juristischen Begriffen decken muss, leuchtet mir ein. Nur war ich bei Weitem nicht der Einzige im Gerichtsaal, der seine Mühe mit diesen völlig überholten Begriffen hatte.

Es gibt viel zu tun im Strafrecht, so es ein akzeptierter Bestandteil unserer Gesellschaft bleiben will.  Und es gibt viel zu tun bei der Ausbildung von Anklägern und Richtern; nicht nur um der Gerechtigkeit willen, sondern auch um der Sicherheit und der Kampfbereitschaft unserer Air Force willen.   

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news-87 Tue, 18 Oct 2022 11:00:00 +0200 Krisen und Notfälle meistern https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/krisen-und-notfaelle-meistern/ Ein Unternehmen muss sich darauf verlassen können, dass es eine Crew hat, die alles bereitstellt, damit es Notfälle oder Krisen professionell meistern kann. Daniel Schlup tut das bei den Schweizerischen Bundesbahnen SBB mit einer motivierten Mannschaft. Bei der Frage, wie er die vielen Notfall- und Krisenstabchefs so wie all die Mitarbeitenden in diesen Stäben effizient ausbilden kann, ist er auf GemaSim gestossen.

GemaSim ist eine Computersimulation in welcher die Trainees zu viert ein Raumschiff steuern und anspruchsvolle Missionen im Weltraum absolvieren. Im Zentrum des Lernens geht es aber nicht um technische Skills. Der Fokus liegt ganz auf den zielführenden Verhaltensweisen der Stabsleitung und den Teamplayern in den Stäben. Es war mir eine grosse Freude, den SBB-Verantwortlichen in einem dreitägigen Kurs die Ausbildungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die GemaSim zu bieten hat. Diese wurden bei Daniel Schlups Team mit einem zusätzlichen Enabler verstärkt. Denn die ganze Crew war PCM (Process Communication Model) geschult und damit bestens ausgerüstet, um die Kommunikation auch unter heftigem Stress gelingend zu halten. Das Zusammentreffen dieser zwei Trainingsansätze, PCM und GemaSim, liess die Ausbildung seiner Crew zum eigentlichen Power-Training mutieren.

Ausbildungskonzepte für Notfall- und Krisenorganisationen sind eine besondere Herausforderung. Nach der Finanzkrise und spätestens in der Pandemie mussten sich viele Firmen mit der Frage beschäftigen, welches die beste Art der Führung und Zusammenarbeit in solch ausserordentlichen Lagen ist. So wundert es nicht, dass sich die SBB bei der Aviatik umzusehen begann. Die Führungskonzepte, so wie die Aspekte der Zusammenarbeit unter erschwerten Bedingungen werden in der Luftfahrt seit den Achtzigerjahren konsequent weiterentwickelt. Dabei dient das Cockpit als Fokuspunkt und als Metapher zugleich. Vieles, was sich in diesem engen Führungsumfeld bewährt, kann in der Tat in die Stabsarbeit von Notfall- und Krisenorganisationen übertragen werden. Wenn es um die herausfordernden organisatorischen und personell aufwendigen Elemente der Führungsunterstützung von grossen Firmen geht, kann die Aviatik nur sinnbildlich weiterhelfen. Brücken lassen sich hingegen ohne Abstriche bei den interpersonalen Skills, der inneren Haltung und Einstellung der Vorgesetzten und bei der stringenten Anwendung der Prinzipien eines strukturierten Vorgehens problemlos bauen.

Als ehemals Verantwortlicher der Krisenorganisation der Swissair und als Kapitän bin ich bei der Entwicklung von Ausbildungskonzepten für Krisen- und Notfallorganisationen auf GemaSim gestossen. Seit vielen Jahren hat sich das Tool bei Blaulichtorganisationen bewährt. Es erspart den Trainees den ineffizienten Frontalunterricht. Die Simulation, die sie von der ersten Sekunde an voll in Anspruch nimmt, gibt ihnen die Möglichkeit, die Lehren aus Betroffenheit zu ziehen. Ein erwiesenermassen erfolgreicher Lernansatz, der nicht nur Spuren hinterlässt, sondern auch noch Spass macht.

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news-85 Mon, 29 Aug 2022 10:00:00 +0200 Just Culture in der Medizin https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/just-culture-in-der-medizin/ Es freut mich, am 5. Nationalen Strahlenschutztag ein Referat über Just Culture halten zu können. Die vom Bundesamt für Gesundheit organisierte Veranstaltung ist medizinischen Strahlenereignissen und der Patientensicherheit gewidmet. Mit Just Culture greift die Medizin einen Kulturansatz auf, welcher sich in der Luftfahrt in den vergangenen Jahren breit und regulatorisch etabliert hat. Kein Wunder, denn die umgangssprachlich ‘Fehlerkultur’ genannte Just Culture hat sich zu einem tragenden und wirkungsstarken Fundament der Sicherheitsanstrengungen in der Aviatik entwickelt. Mit meiner Erfahrung, die ich in der Luftfahrt machen durfte, unterstütze ich heute als Organisationsentwickler und Change-Agent Führungskräfte in Hochzuverlässigkeitsorganisationen bei der Einführung und Verankerung dieser besonderen Sicherheitskultur.

Die Tagung spricht Fachärztinnen und Fachärzte für Radiologie, Nuklearmedizin bzw. Radioonkologie, Medizinphysikerinnen und Medizinphysiker und Radiologiefachpersonen mit Leitungsfunktion bzw. als medizinische / technische Sachverständige für den Strahlenschutz an. Ebenfalls zum Zielpublikum gehören Qualitäts- und/oder Risikomanagerinnen und -manager.

Der Tag wird im Sinne eines «Call for Action» gestaltet. Das BAG will an diesem Event die Stakeholder aus allen Sprachregionen der Schweiz vernetzen und zur Initialisierung und Durchführung von Projekten zur Förderung der Patientensicherheit bewegen.

Weitere Informationen zum 5. Nationalen Strahlenschutztag in der Medizin unter https://lnkd.in/e4YNJ3KU

Mehr Info zu Just Culture: https://www.justculture.ch/was-ist-just-culture

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news-83 Mon, 15 Aug 2022 11:25:00 +0200 Das betriebliche Gesundheitswesen (BGM) nimmt seine Kommunikation unter die Lupe https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/das-betriebliche-gesundheitswesen-bgm-nimmt-seine-kommunikation-unter-die-lupe/ Es freut mich, an der 18. Nationalen Tagung für betriebliches Gesundheitsmanagement als Referent einen Beitrag zum Thema Kommunikation beisteuern zu dürfen. Die Tagung hat sich zum Ziel gesetzt, den Teilnehmenden Ansätze, Ideen und Tools mit auf den Weg zu geben, mit denen sie die BGM-Kommunikation in ihren Unternehmen optimieren können. So, dass BGM nicht nur mehr Wertschätzung erhält, sondern dass auch seine Angebote mehr genutzt werden. Da hilft es, wenn im Betrieb die BGM-Verantwortlichen dazu beitragen können, dass Misskommunikation vermieden werden kann. Denn auch in der Kommunikation gilt: «Failure is no Option».

BGM im Unternehmen erfolgreich etablieren heisst Kulturwandel. Als Organisationsentwickler und Change-Agent kenne ich die Bedeutung der Kommunikation bei solch anspruchsvollen Veränderungsprozessen. Denn was mich die stürmischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte als Verantwortungsträger in der Luftfahrt gelehrt haben, ist, dass in diesem Hochrisikoumfeld die einzige Konstante der Wandel ist.

Ich werde in meinen Ausführungen auf die Bedeutung der Beziehungsgestaltung der BGM-Verantwortlichen mit den Stakeholdern in ihrem Umfeld eingehen. Denn für eine gelingende Kommunikation lohnt es sich, da anzusetzen. Das sind gute Nachrichten, denn sie zeigen, dass jede und jeder einen wertvollen Beitrag zur besseren Verständigung im Betrieb leisten kann. Wie das geht? Mehr darüber am 31. August im Kursaal Bern.

Ich freue mich auf einen regen Austausch mit den BGM-Spezialistinnen und Spezialisten.

Weitere Informationen zur Tagung: https://www.bgm-tagung.ch/de/

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news-81 Mon, 25 Jul 2022 17:00:00 +0200 Der einäugige Staat https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/der-einaeugige-staat/ Ende Juni 2022 spricht das Bundesgericht einen Fluglotsen der Skyguide frei. Der Tatbestand der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit könne von der Staatsanwaltschaft nicht geltend gemacht werden. Das ist eine gute Nachricht, nicht nur für den Lotsen, sondern auch für alle Flugreisenden. Ob das Urteil allerdings nachhaltig ist für die Gewährleistung der Sicherheit im Luftverkehr, darf bezweifelt werden.

Mit seinem Urteil vom 29.6.2020 spricht das Bundesgericht einen von der Staatsanwaltschaft angeklagten Fluglotsen frei. Dieser habe am 20. August 2012 am Flughafen Kloten für eine angeblich gefährliche Annäherung zweier Flugzeuge gesorgt. Das Bundesgericht stützt dabei das Urteil der kantonalen Vorinstanz und legt in seiner Begründung dar, dass eine hinreichend konkrete Gefährdung nie existiert habe. Sie wäre eine Voraussetzung, um gemäss geltendem Recht eine Strafe anordnen zu können. Dass die Staatsanwaltschaft das Urteil der Vorinstanz nicht akzeptierte und den Fall vor das Bundesgericht zog, lässt aufhorchen. Gab es wirklich eine Notwendigkeit für diesen staatlichen Eifer?

Beim Straftatbestand ging es um die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Am Umstand, dass sich der Staat um die Gewährung eben dieser aktiv bemüht, ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Bei der Frage, wie er das tut, kommen aber Zweifel auf, über die wir uns in der Gesellschaft Gedanken machen sollten. Es ist kein Zufall, dass die Aviatik in dieser Sache ihre Stimme kritisch erhebt. Denn wenn es darum geht, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, ist sie in besonderem Masse gefordert. So ist es naheliegend, dass sich in diesem Hochrisikobereich Wissen angesammelt hat und Konzepte entwickelt wurden, die aufzeigen, wie Sicherheit in hochkomplexen soziotechnischen Systemen sichergestellt und weiter verbessert werden kann.

Beim Lesen des bundesrichterlichen Urteils wird klar, dass gemäss geltendem Recht eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nur in Bezug mit den Handlungen eines fehlbaren Menschen gesehen wird. Der Staat tu so, als ob die öffentliche Sicherheit allein durch menschliches Fehlverhalten gefährdet werden könnte. Damit negiert er all die in der Organisation und im Gesamtsystem schlummernden Hotspots, die einen nachweislich negativen Einfluss auf die Sicherheit haben. Einmal mehr vermissen wir also die Beurteilung der systemrelevanten Aspekte. Es ist, als wären sie inexistent. Welch ungeheure Verkürzung. In einem derart trivialisierten Weltbild lässt es sich gut leben. Aber gerechte Urteile, solche, die etwas mit der Welt, wie sie die Menschen erleben, zu tun haben, kann eine derartige Praxis nur zufallsweise oder über Umwege fällen. So wie in diesem Fall, wo eine von der Staatsanwaltschaft ins Spiel gebrachte Gefährdung vom Bundesgericht nicht gesehen wurde.

Die systemische Perspektive verstehen

Handlungen von Menschen, die in komplexen Systemen tätig sind, sind mannigfaltigen Einflüsse des Kontextes ausgesetzt.  Wir müssen, um dies zu verstehen, nicht einmal die Forschungsarbeiten von grossen Verhaltensökonomen wie dem Nobelpreisträger Daniel Kahnemann bemühen. Es reicht völlig aus, wenn wir uns die offenkundigsten Zusammenhänge ansehen.

Beim obersten und wichtigsten Aspekt geht es um die Eröffnung von Strafverfahren mit ihrem negativen Einfluss auf das Meldeverhalten der Mitarbeitenden an der Front. Unter geltendem Strafrecht, welches nicht nur vorsätzliche, sondern auch leicht fahrlässige Handlungen bestraft, sind Meldungen über sicherheitsrelevante Ereignisse daher stets mit Angst der Meldenden verbunden. Die daraus resultierende Zurückhaltung beim Rapportieren unterminiert die Sicherheitskultur im Unternehmen und in der ganzen Community. Das ist gravierend, denn das schmälert die Datenbasis des Sicherheitsmanagements und verhindert das Aufstellen von wirkungsvollen Sicherheitsbarrieren.  Zum Leidwesen der Öffentlichkeit, die sich in den Flugzeugen gerne sicher fühlt.

Aus den öffentlich zugänglichen Dokumenten des erwähnten Falles ist nicht ersichtlich, ob der Lotse mit seinem Handeln geltende Regeln missachtet oder dagegen verstossen hat. Wir müssen oder dürfen davon ausgehen, dass er regelkonform gehandelt hat. Denn sonst wäre dieser Umstand bestimmt prominent abgehandelt worden. Trägt er nun allein die Verantwortung für das Geschehene? Der Fall ist ein Musterbeispiel für Vorkommnisse in hoch komplexen Systemen, in welchen es zu unerwünschten Ereignissen kommen kann, obwohl sich alle an die Regeln halten.  

Auch ist nicht ersichtlich, ob sein Handeln nicht der ‚Best Practice‘ in der Luftverkehrskontrolle entsprach. Es wird nicht darauf eingegangen, ob ein anderer Lotse in der gleichen Situation gleich gehandelt hätte. Insbesondere der zweite Aspekt ist von besonderer Bedeutung, will man der beschuldigten Person nur annähernd gerecht werden. Das zeigt, dass die übliche Praxis in der Rechtspflege nicht zertifiziere Gutachter wie in anderen Ländern beizuziehen, nicht zielführend ist. Es braucht Sachkenntnis vom spezifischen Arbeitsumfeld des Betroffenen, welches auch die Kultur des Unternehmens miteinschliesst.  Denn da würde man fündig bei der Frage, ob er gegebenenfalls einem kulturell verankerten Wertgefüge Folge leistete, das der Effizienz der Auftragserledigung einen inadäquaten Stellenwert beimisst. Die Entscheidungsträger an der Front sind nämlich täglich Dutzende Male mit einem Zielkonflikt konfrontiert, der sie auffordert, sich zwischen Ernsthaftigkeit (Sicherheit) und Effizienz zu entscheiden. Da sie das Unternehmen bei dieser Entscheidung allein lässt, orientieren sie sich verständlicherweise an der gängigen Praxis. Sie entscheiden so, wie man das eben in dieser Firma macht. Sie handeln nach Regeln, die in grossen Lettern an der Wand stehen, aber in keinem Buch zu finden sind. Ist es redlich, wenn ihnen im Ereignisfall vorgeworfen wird, sie hätten der Ernsthaftigkeit der Auftragserledigung und damit der Sicherheit zu wenig Beachtung geschenkt? Dies, obwohl alle wissen, dass, wenn sie sich stets für die Ernsthaftigkeit entscheiden würden, der ganze Laden zum Stillstand käme?  

Wenn im Nachgang zu einem unerwünschten Ereignis ein Urteil über einen Entscheidungsträger an der Front gefällt wird, ohne dass dabei zwingend diese Fragen geklärt wurden, ist das nicht redlich. Es ist undifferenziert und billig, weil es alle anderen Stakeholder, die am Design des Systems mitgewirkt haben, nicht in die Verantwortung zieht. All das zeigt, mit welcher Einäugigkeit der Rechtsstaat handelt und wie unbedarft er mit der modernen, komplexen Welt umgeht, in welcher sich die Akteure in der Luftfahrt Tag täglich bewegen.

Die Legislative ist gefordert

Es geht hier nicht um eine Kritik an den handelnden Akteuren im juristischen Bereich. Sie sind gehalten, das Recht umzusetzen. Es ist eine Kritik an der Legislative, welche solche Zustände nach wie vor duldet, stillschweigend toleriert und uns Bürger staunend, kopfschüttelnd, ja ratlos zurücklässt. Wir haben ein berechtigtes Bedürfnis, dass versucht wird, die öffentliche Sicherheit mit dem heute verfügbaren Wissen zu gewährleisten. Die in grauer Vorzeit entwickelten Ansätze, die entstanden sind, als der Mensch noch nicht in komplexen soziotechnischen Systemen tätig war, wo sein Handeln stets direkt kausal mit dem Resultat seines Wirkens verbunden war, greifen heute klar zu kurz.

Es geht nicht darum, den Menschen aus seiner Verantwortung zu befreien. Es geht darum, sein Handeln mit einem ganzheitlichen Blick und unter Berücksichtigung der vielfältigen systemischen Einflüsse zu würdigen. Alles andere ist unredlich.

Wir können es uns nicht mehr leisten, nicht in den Spiegel zu schauen. Wir müssen uns irgendwann der Tatsache stellen, dass wir Systeme gebaut haben, die wir nicht mehr ganz beherrschen können und in denen wir Menschen arbeiten lassen, die den systemischen Einflüssen voll ausgesetzt sind. Sie im Ereignisfall ungeachtet dieser Umstände wie Kanonenfutter zu behandeln ist nicht okay. Manchmal ‚überleben‘ sie und werden wie in diesem Fall freigesprochen, manchmal werden sie bestraft. Gewiss ist bei diesen archaisch anmutenden Verfahren lediglich, dass alle anderen Stakeholder, die am Aufbau der komplexen Systeme tatkräftig mitgewirkt haben und daher Mitverantwortung tragen, stets ungeschoren davonkommen. Diese simple Reduktion der Betrachtung auf das handelnde Individuum ist einer zivilisierten Gesellschaft nicht würdig.

Was wir brauchen

Wir haben in der Luftfahrt gelernt, dass wir die Sicherheit mit einem systemischen Ansatz angehen müssen, in welchem der Mensch dank seiner enormen Anpassungsfähigkeit die Gatekeeper Rolle übernimmt. Wir haben gelernt, dass Fehler wichtige Symptome eines nicht optimal funktionierenden Systems sind. Daher verstehen wir den Fehler als Lernchance und tun alles, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Just Culture, zu gut Deutsch ‚Redlichkeitskultur‘, hilft uns dabei. In jedem Einzelfall wägen wir mit einem Balance Check ab, ob er sich fürs Lernen eignet oder ob ein grobfahrlässiges oder gar ein willentlicher Verstoss gegen geltende Regeln vorliegt. Denn beides wird selbstredend nicht akzeptiert und geahndet. Wie wir als Gesellschaft mit dieser Problematik umgehen können, hat der Dachverband der Schweizer Luft- und Raumfahrt / AEROSUISSE in ihrem Whitepaper am Beispiel und im Kontext der Luftfahrt dargelegt.

AEROSUISSE: Verankerung der Just Culture Prinzipien im Schweizer Recht

 

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news-79 Mon, 21 Mar 2022 20:00:00 +0100 Zusammenarbeit unter Druck und Stress https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/zusammenarbeit-unter-druck-und-stress/ “Failure is no option” - Das gilt auch für Teams, die unter hohem Druck und im Stress zusammenarbeiten müssen. Bei den Schweizerischen Bundesbahnen / SBB ist das in den Traffic Control Centers (TCC) alltägliches Brot. Daher schulen die SBB ihre TCC-Führungskräfte und die Mitarbeitenden seit 2006 mit einem Ansatz, den ich für sie unter Miteinbezug der Computersimulation "GemaSim" entwickeln durfte. Nun sind wieder neue SBB-Trainer in der Ausbildung. Nach zwei Kursen in Lausanne sind Hélène Magnenant und Yannick Abel-Coindoz so weit, dass sie die Kurse intern selbst leiten können. Herzliche Gratulation den beiden für ihre feine Art, die Teilnehmenden in ihrer Entwicklung zum stressresistenten Teamplayer zu unterstützen.

Immer wenn wir unter Druck handeln oder Stress empfinden, ändert sich unser Verhalten. Das ist eine alte Weisheit, die erhebliche Auswirkungen auf unsere Kooperations- und Führungsfähigkeiten hat. Stress führt u.a. dazu, dass wir Mühe haben klar zu denken. Noch schwerer wiegt der Umstand, dass wir unter Druck dysfunktionales Verhalten zeigen. Beides zusammen hat das Potenzial, aus uns ziemlich schlechte Führungskräfte oder Teamplayer zu machen. So ergibt es für Vorgesetzte und Mitarbeitende, die jobgebunden immer wieder mit Stress konfrontiert sind viel Sinn, sich mit ihren stressbedingten Verhaltensmustern und mit krisenresistenten Führungskonzepten auseinanderzusetzen.

In den Traffic Control Center (TCC) der Schweizerischen Bundesbahnen ist Zeitdruck und Stress ein fast alltägliches Phänomen. Dort suchen und entwickeln Teams, zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten Disziplinen, im Falle von Störungen auf dem Streckennetz, Lösungen für die reisende Kundschaft. Sie alle sind Tag täglich gefordert, die Auswirkungen des Stresses in Grenzen zu halten. Dies ist der Grund, weshalb die SBB ihre Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden in den TCC’s seit Anbeginn mit einem spezifischen Ausbildungsansatz trainieren.

Zu den langjährigen Kunden dieses Trainingsansatzes zählen unter vielen auch die Schweizer Luftwaffe, die ihre jungen Piloten des Berufsfliegerkorps trainiert und naheliegenderweise unzählige Krisenstäbe, denen eine kontrollierte und vorhersehbare Führung in Krisen ein ernsthaftes Anliegen ist.

Im Zentrum des Trainings steht die Computersimulation «GemaSim». Sie sorgt für attraktive, dynamische Situationsentwicklungen und fordert die Teilnehmenden auf, unter Stress zu führen und eine Zusammenarbeit zu gestalten, die dem Druck standhält. Das eigentliche Training findet in der vom Trainer oder der Trainerin geleiteten Reflexion statt. Die lizenzierten Ausbildner moderieren im Anschluss an gemeinsam gemeisterte Erkundungsflüge im Weltraum, in einem teilnehmerzentrierten Debriefing den individuellen Lernprozess. Da die Erkenntnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit erlebten Emotionen aus den geflogenen Missionen verknüpft sind und sie reichhaltige Feedbacks über ihr Verhalten bekommen, ist der Lernfortschritt entsprechend hoch. Am Ende des letzten Trainings bei den SBB meinte eine Führungskraft: «Das ist das beste Training, welches ich bei den SBB je absolvieren durfte. Meine Erfahrungen, die ich in dieser Schulung machen konnte, sind für mich von grosser Bedeutung und gehen tief».

Training mit GemaSim

 

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news-77 Fri, 11 Mar 2022 22:00:00 +0100 Aviatik fordert Just Culture Prinzipien im Schweizer Recht https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/aviatik-fordert-just-culture-prinzipien-im-schweizer-recht/ Der Dachverband der Schweizer Luft- und Raumfahrt AEROSUISSE hat ein Whitepaper veröffentlicht, mit dem er seine Anliegen zur angelaufenen Rechtsentwicklung darlegt. Es geht um rechtliche Rahmenbedingungen, die für die Sicherheit von Passagieren, Patienten und der Umwelt bedeutungsvoll sind. Das Papier wurde in enger Zusammenarbeit von und mit betroffenen Stakeholdern in der Aviatik ausgearbeitet. Als Mitautor habe ich den Prozess für das Zustandekommen des Whitepapers geleitet.

Noch in diesem Jahr wird der Bundesrat den eidgenössischen Räten einen Vorschlag unterbreiten, wie die Prinzipien der Redlichkeitskultur künftig ins Schweizer Gesetz aufgenommen werden können. Es ist das Bundesamt für Justiz welches das Postulat «Redlichkeitskultur im Schweizer Recht» (20.3463) bearbeitet und sich auf die Suche nach möglichen Lösungsansätzen gemacht hat. Es hat zur Unterstützung von der Foundation for Aviation Competence eine Studie anfertigen lassen, die einen Rechtsvergleich mit europäischen Staaten und eine Stakeholder Analyse in den Schweizer Hochrisiko-Branchen beinhaltet.

Die Beantwortung des Postulates ist der Beginn einer Rechtsentwicklung, die für die Schweiz von besonderer Bedeutung ist. Es geht darum, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die der Verbesserung der Sicherheit dienen. Das Lernen aus gemeldeten Fast-Vorkommnissen, aus unerwünschten Ereignissen und aus sicherheitsrelevanten Hinweisen soll durch diese künftig besser möglich sein. Heute hängt das Strafrecht drohend über jenen, die melden, Aussagen machen oder Hinweise geben. Schweigen lohnt sich und damit ist das ‘Nichtlernen’ im Gesetz angelegt. In unserer heutigen Welt mit komplexen soziotechnischen Systemen, die zudem von Krise zu Krise eilt, ist das eine Anachronismus. Wer macht sich den heute noch vor zu wissen, wie alles zusammenhängt und funktioniert? Diese Frage stellt sich zunehmend auch in Unternehmen, die grosse Risiken unter organisatorische Kontrolle bringen müssen. Unternehmen in der Medizin, der Luftfahrt, der Energiewirtschaft und im Bahnwesen. Sie alle sind zwingend darauf angewiesen, dass sie von ihren Mitarbeitenden Informationen darüber erhalten, wo es im ‘System’ klemmt, wo Risiken organisatorisch angelegt sind.

Solange sich der Staat das Recht ausbedingt ungeachtet der Kollateralschäden auf die meldebereite Sicherheitskultur in diesen Unternehmen anklagend und strafend einzugreifen, solange bleiben diese Risiken wie vergrabene Minen angelegt und nicht adressiert. Wollen das die Passagiere im Flugzeug und in der Bahn? Wollen das die Patientinnen und Patienten, die im OP auf den chirurgischen Eingriff warten? Wollen das die Menschen, wenn sie Strom vom Kernkraftwerk beziehen? Wollen das unsere Parlamentarierinnen und Parlamentarier?

In der Luftfahrt existiert seit Jahren für spezielle Berufsgruppen eine Meldepflicht. Sie ist gesetzlich geregelt und geht einher mit dem Schutz der Meldeperson, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um Vorsätzliches oder Grobfahrlässiges. Diese Regelung hat dazu geführt, dass sich in den Unternehmungen eine lernende Fehlerkultur, die Just Culture (auch Redlichkeitskultur genannt) etabliert hat. Doch diese gilt nur innerhalb des Unternehmens und muss mit dem Damoklesschwert der Strafverfolgung klarkommen. Niemand, auch die Stakeholder der Luftfahrt nicht, fordert eine generelle Straffreiheit. Willentliche Verstösse, Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gehören bestraft. Doch die Autorität des Staates und damit seine Macht sollte zum Wohle der Sicherheit mit transparenten Verfahren und Vorgaben dahingehend gemässigt werden, dass er per Gesetz angehalten wird, eine Balance zu finden zwischen strafrechtlichem Anspruch und Anspruch auf Lernen und Verbesserung der Sicherheit.  

Die Schweizer Luftfahrt hat sich nun mit einem Whitepaper zu Wort gemeldet. Es erklärt die Zusammenhänge, erläutert die Bedeutung für die Sicherheit und macht konkrete Vorschläge zur angelaufenen Rechtsentwicklung. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass fortschrittliche Staaten geeignete Lösungen für die gesellschaftlich so relevante Güterabwägung zwischen Strafverfolgung und Verbesserung der Sicherheit dank Lernen gefunden haben. Es gibt Ansätze, die das eine nicht gegen das andere ausspielen. Das sehen auch die Internationale Civil Aviation Organization (ICAO) und die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) mit ihren zahlreichen Empfehlungen an die Nationalstaaten so. All das macht Mut und gibt Hoffnung, dass sich der Blick des Schweizer Gesetzgebers weitet und er sich nicht mehr den enormen Entwicklungen unserer soziotechnischen Systeme verschliesst. Denn diese verlangen ein Umdenken und rufen nach neuen, adäquaten Lösungen.

Ich wünsche den Leserinnen und Leser eine angeregte Lektüre:

AEROSUISSE: Verankerung der Just Culture Prinzipien im Schweizer Recht

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news-75 Sun, 06 Feb 2022 23:03:00 +0100 Misskommunikation ist keine Option https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/misskommunikation-ist-keine-option/ Nicht nur in Zeiten der Pandemie sind die Ansprüche an die Kommunikation der Führungskräfte hoch. Im sicherheitsrelevanten Umfeld ist Misskommunikation grundsätzlich hoch problematisch. Schön, dass sich letzte Woche wieder vier Führungskräfte aus dem Hochrisikoumfeld einfanden und drei Tage lang ihre kommunikativen Fähigkeiten gestärkt haben. Von mir aus hätte es länger dauern können, denn die Stimmung und das Lernklima waren ganz einfach spitze. Vielen Dank an die Teilnehmenden. So macht Weiterbildung richtig Spass!

In der High Reliability Organisation gilt: Failure is no Option. Dasselbe gilt auch für die Kommunikation. Es ist entscheidend, dass sich die Akteure verstehen. Schon kleine Missverständnisse können gravierende Folgen haben. Nicht zu reden von zwischenmenschlichen Konflikten, die ihren Anfang bekanntlich stets in der Misskommunikation haben.

Mit dem Process Communication Model® haben die Teilnehmenden auf der Basis eines für sie angefertigten Persönlichkeitsprofils ihre kommunikativen Fähigkeiten gestärkt. Sie können jetzt in ihrem Umfeld auf die individuellen Präferenzen ihrer Arbeitskollegen und Kolleginnen eingehen und so für Kommunikation ohne Rauschen und Nebentöne sorgen. Sie wissen nun, mit welchen Menschen die Kommunikation für sie herausfordernd wird. Sie können sich auf diese einstellen und ihre Kommunikation präzise anpassen. Sie wissen, wann und warum sie selbst zur kommunikativen Herausforderung für andere werden. Sie haben sich das Rüstzeug angeeignet, um Kommunikation nicht in Misskommunikation abgleiten zu lassen. So gestärkt sind sie in der Lage, Konflikte im Entstehen zu erkennen und mit ihren neu erworbenen Skills deeskalierend Einfluss zu nehmen.

Kommunikation ist das Mittel zur Gestaltung der Beziehung zu anderen Menschen. Nach dieser Ausbildung werden die Teilnehmenden in ihren Organisationen einen wertvollen Beitrag für ein gelingendes Miteinander leisten können. Für ein Miteinander, das zu mehr Effizienz führt und gleichzeitig mehr Spass macht.

News
news-73 Thu, 27 Jan 2022 22:22:00 +0100 Failure is no Option. Auch in der Kommunikation. https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/failure-is-no-option-auch-in-der-kommunikation/ Diese Woche haben weitere Piloten und Führungskräfte aus der Einsatzzentrale der Rega / Schweizerische Rettungsflugwacht Jet-Operation ihre kommunikativen Fähigkeiten gestärkt. Gut gemacht, denn in ihrem zeitkritischen und risikoreichen Arbeitsumfeld haben Misskommunikation und zwischenmenschliche Konflikte gravierende Auswirkungen. Herzlichen Dank an die Teilnehmenden! Fürwahr, eine coole Truppe! Mehr dazu…

Bei der Frage, wie man Sicherheit und Zuverlässigkeit gewährleisten kann, denken viele zuerst an rigide Prozesse, Compliance, Disziplin und fachlich bestaufgestellte Führungskräfte und Mitarbeitende. Was oftmals übersehen wird, sind die gravierend negativen Auswirkungen einer nicht gelingenden Kommunikation. Damit das Gefüge unserer komplexen Systeme zusammengehalten wird und sie ihre volle Leistung sicher und zuverlässig erbringen können, ist eine möglichst reibungsfreie Zusammenarbeit der beteiligten Menschen unabdingbar. Diese steht und fällt mit der Qualität der Kommunikation. Wenn zudem, wie bei der Rega / Schweizerische Rettungsflugwacht in der Luftrettung ein enorm hohes Mass an Flexibilität gefragt ist, dann wird die gelingende Kommunikation zum Erfolgsfaktor schlechthin.

Mit dem Process Communication Model® haben die Teilnehmenden auf der Basis eines Persönlichkeitsprofils ihre kommunikativen Fähigkeiten gestärkt. Sie wissen nun, mit welchen Menschen die Kommunikation für sie herausfordernd wird. Sie können sich auf diese Menschen einstellen und ihre Kommunikation präzise anpassen. Sie wissen, wann und warum sie selbst zur kommunikativen Herausforderung für andere werden. Sei haben sich das Rüstzeug angeeignet, um Kommunikation nicht in Misskommunikation abgleiten zu lassen. So gestärkt sind sie in der Lage, Konflikte im Entstehen zu erkennen und mit ihren neu erworbenen Skills deeskalierend Einfluss zu nehmen.

Die drei Ausbildungstage waren für mich Herausforderung und Freude zugleich. Ich weiss, dass wir gemeinsam einen weiteren Beitrag für eine sichere und zuverlässige Flugoperation der Rega geleistet haben. Und ich weiss, dass die Teilnehmenden mit ihren neu erworbenen Fähigkeiten zudem für ein gelingendes Miteinander im betrieblichen Alltag sorgen werden. Win-Win. Was will man noch mehr?

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news-71 Thu, 23 Dec 2021 21:00:00 +0100 Demut https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/demut/ Manchmal lehren uns Geschichten mehr als lange Theorien. Wenn es um Führung geht, sind die Theorien besonders lang… Hier ist eine Geschichte, die Führungskräften eingebunden in anspruchsvolle heutige Settings Denkanstösse zu geben vermag.

Immer wieder finden wir in der Geschichte Ereignisse, die eine neue Ära einläuten und als Wegmarken für bedeutungsvolle Entwicklungen dienen. Die tragische Crash-Landung einer United DC-10 in Sioux City im Jahre 1989 ist ein solcher Event. Dieses Vorkommnis markierte den Umbruch eines überholten Führungsverständnisses in der Luftfahrt in eine zeitgemässe Form der Führung.

United Flug 232

Was war geschehen? Die Maschine befand sich in 10'000 Meter Höhe im Reiseflug zwischen Denver und Philadelphia, als das mittlere der drei Triebwerke explosionsartig desintegrierte und herumfliegende Teile alle drei Hydrauliksysteme beschädigten. Das Flugzeug war ab diesem Zeitpunkt praktisch unsteuerbar. Im Cockpit befand sich Cptn Haynes, der erste Offizier und der Bordingenieur. Es gelang den beiden Piloten, die Maschine in einer sinkenden Kurve zu halten, indem sie die Steuersäule mit maximaler Körperkraft nach hinten zogen und sich mit vollem Querruderausschlag gegen die Kurve stemmten. Mehr war nicht drin. Der Absturz war nur eine Sache der Zeit, bis die Maschine so kurvend auf den Boden aufschlagen würde. In der Not erinnerte sich Captn Haynes an den als Passagier mitfliegenden DC-10-Fluglehrer an Bord und bot ihn zur Hilfe auf. Diesem gelang es vom mittleren Sitz aus im Cockpit, mit den beiden Schubreglern der noch funktionstüchtigen Flügeltriebwerke, die Maschine zu steuern. Wobei es sich dabei eher um ein grobes Richtungsweisen mit einer sehr unpräzisen Sinkratensteuerung handelte.

In einer später nicht mehr reproduzierbaren Höchstleistung gelang es den vier Cokpitmitgliedern die DC-10 im Gelände des Sioux Gateway Airports in Iowa zu Boden zu bringen. Von einer Landung konnte nicht dir Rede sein. Beim Aufschlag drehte sich die Maschine auf den Rücken, fing Feuer und zerbrach in vier Teile. Von den 296 Personen an Bord des Flugzeuges kamen 111 ums Leben. 185 Menschen überlebten hingegen das Unglück. Es gab ein paar begünstigende Umstände, die die Opferzahl minimierten. Den bedeutendsten Aspekt erklärte Cptn Haynes nach dem Vorfall wie folgt: "Bis in die 80-er Jahre war der Kapitän die Autorität an Bord. Was er sagte, das hatte Gültigkeit. So haben wir einige Flugzeuge verloren. Manchmal war der Kapitän nicht so gut wie wir alle glaubten. In Sioux City wusste keiner von uns was zu tun war. Wieso hätte ausgerechnet ich wissen müssen, wie wir vorzugehen haben? Aber wir vier hatten zusammen 103 Jahre Piloten-Erfahrung. Indem sich jeder voll einbringen konnte, haben wir es geschafft die DC-10 in Sioux City zu Boden zu bringen.“

Ein neues Führungsverständnis

Hier spricht eine Führungskraft, die sich und all ihren Mitarbeitenden nicht vormacht, sie wäre Herr über alle Situationen. Cptn Hayens hat mit dieser Aussage offen mit dem Heldenmythos der "Götter in Blau" gebrochen. Er weigert sich nicht nur, im Nachhinein seine persönliche Leistung herauszustreichen. Sondern er begegnet seiner Herausforderung aus einer demütigen inneren Haltung heraus. Es ist diese Haltung, die die erforderliche und erfolgreiche Teamarbeit erst möglich machte. Eine Haltung, die es ihm nicht erlaubt, nur weil er Chef ist, etwas zu tun, das nicht eine brauchbare Antwort auf die Problemstellung wäre. Er nutzt seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen auf optimale Weise und lässt es nicht zu, dass ihn sein Ego lieber in einer besonders angesehenen Rolle sähe. Sein Uniform-Jackett mit den vier Streifen und sein Kapitänshut sind hinten in der Garderobe gut aufgehoben. Dort können sie keine Kollateralschäden anrichten.

Warum wir keine Helden mehr brauchen

Was hier in der Notsituation auf extreme Weise dargestellt wird und kantig zum Vorschein kommt, spielt sich tausendfach in hochkomplexen Arbeits- und Führungsumfeldern im Normalbetrieb ab. In Sioux City konfrontiert die Notlage eine Führungskraft und verlangt von ihr eine Lösung für ein Problem, das sie nicht kennt. Anderswo verlangt ein gnadenloser Wettbewerb eine Adaptations- und Innovationsfähigkeit vom Unternehmen und seinen Führungskräften und ruft so nach Lösungen, die sie noch nicht kennen. Letztlich handelt es sich um den gleichen Kontext, in welchem 'Führung' auf eine spezielle Art und Weise gefragt ist. Nicht nur von der Krise gefordert, sondern auch vom Anpassungs- und Innovationsdruck drängen sich Diversity, Inclusion, kollaboratives Führungsverständnis, agiles Management und die damit verbundenen sozialen Kompetenzen der Führungskraft so prominent in den Vordergrund. Sie alle sind wichtige Elemente einer ressourcenorientierten Führung. Wenn ich als Chef oder Experte nicht weiss, wie die Antwort auf das Problem lautet, hilft mir der Heldensockel, auf dem ich stehe herzlich wenig. Wenn es mir in solchen Situationen oder Umfeldern nicht gelingt herunterzusteigen, wird es gefährlich. Dann wird die kumulierte Macht der Helden zum Risiko für das Unternehmen. Denn es besteht die Gefahr, dass Dinge getan werden, die nicht für die Problemlösung gedacht sind, sondern für den Machterhalt oder das Face-keeping der Führung. In meinen diversen Engagements als Coach und Ausbildner von Krisenstäben wurde und werde ich immer wieder Zeuge solcher fehlgeleiteten Handlungen von Verantwortungsträgern. Da die Begebenheiten für alle Beteiligten stets transparent sind, sind sie auch die Auslöser von peniblen Peinlichkeiten oder gar Frust im Team.

Demut als Basis

Demut schützt Führungskräfte und Spezialisten vor solch gefährlichen Eskapaden. Sie hilft ihnen, ihre Erwartungen an ihre Leistung frei von formalen oder organisatorischen Ansprüchen zu sehen und öffnet den Blick auf das, was es zu tun gilt. Keine Politik, keine Fassandenschiebereien und keine Cover-Your-Ass-Strategien. Demut befreit Verantwortungsträger von solchen korrosiven Selbstschutzmechanismen und erlaubt ihnen einen authentischen Auftritt, der sie nahbar und verletzlich macht. Ja, es ist so: Wer nahbar und verletzlich ist, dem wird Vertrauen geschenkt. Demut macht aus Helden Teamplayer.

Was noch bis heute von vielen Führungskräften oder Experten als 'der-Sache-nicht-gewachsen sein' oder gar als Versagen interpretiert wird, hat in Sioux City den Erfolgsbeweis erbracht. Der Vorfall lehrt alle, die sich gerne in ihren Fachkompetenzen sonnen und ihre Macht damit legitimieren etwas anderes.

Demut legt den Boden für eine Haltung, die sich nicht anmasst, für jedes Problem eine Lösung zu haben oder stets die Kontrolle über alles aufrecht erhalten zu können. Sie basiert auf dem ehrlichen Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit und der persönlichen Überforderung als Individuum in komplexen Systemen oder herausfordernden Situationen, in Umfeldern mit bedrohlichem Innovationsdruck oder in krisenhaften Zuständen.

Eine demütige Haltung hilft auch jenen Führungskräften, die in Hochrisiko-Organisationen die Verantwortung tragen. Hier hilft der demütige und ehrfürchtige Blick auf ein komplexes System, welches in der Regel zwar hoch reguliert ist, aber in all seinen Facetten und sich überlagernden, sich gegenseitig beeinflussenden Funktionen nicht mehr holistisch verstanden werden kann. Diese innere Einstellung erlaubt es den Führungskräften, eine angstfreie Atmosphäre, eine Kultur des Vertrauens zu schaffen. Indem sie ein Umfeld der psychologischen Sicherheit etablieren, sorgen sie dafür, dass die Information reibungsfrei in der Organisation fliesst. Horizontal wie vertikal. In hochkomplexen Umfeldern führt dies dazu, dass die Schwachpunkte des Systems gemeldet werden. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für den kontinuierlichen Lernprozess und damit für die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Organisation.

Was gilt es zu tun, wenn Führungskräfte überfordert sind?

Nun, überfordert sind sie nur, wenn sie ein Führungsverständnis hochhalten, welches sie ausschliesslich für das Resultat verantwortlich macht. Ein solch output-orientiertes Verständnis kann in einfachen und linearen Umfeldern und Systemen Sinn ergeben. Es wird aber in komplexen und vernetzten Situationen, die durch eine hohe wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnet sind, zur völligen Überforderung. Wo wir in einfachen Systemen steuern und kontrollieren können, sind wir in komplexen Systemen und in Krisen auf die Einflussnahme beschränkt. Die Vielfalt und die Vernetzung der Einflüsse nehmen da der Steuerung und der Kontrolle ihre Kraft. Eine demütige Haltung kann der Führungskraft helfen, sich von der historisch verankerten Resultatsorientierung zu lösen. Die Rolle, die ihr in komplexen, vernetzten und von Anpassungsdruck gekennzeichneten Umfeldern zufällt, ist dem Zustandekommen von Resultaten gewidmet. Führungskräfte sind für sämtliche Prozesse, Strukturen und kulturellen Rahmenbedingungen verantwortlich, die das Ermöglichen von guten Lösungen optimiert. Sie sind da, um Zusammenarbeit zu organisieren. So, dass sämtliche Ressourcen des Unternehmens auf optimale Weise zum Tragen kommen. Wir tun also gut daran, nicht wie gebannt nur das Resultat im Blick zu haben, sondern bei der Leistungsbeurteilung von Führungskräften je länger je mehr ihre Fähigkeiten zu bewerten, die für das Zustandekommen des Resultats massgeblich waren.

Ohne Vertrauen schaffen sie das nicht. Ohne Sinnstiftung auch nicht. Und ohne Demut dürfte es schwierig sein.

Endlich Weihnachten!

Glücklicherweise stehen die Festtage vor der Tür. Sie bieten uns die Möglichkeit, über Dinge nachzudenken, die im Alltag verständlicherweise zu kurz kommen. Weihnachten aber bildet als Fest der Liebe einen geradezu idealen Rahmen, um die Gedanken rund um die Tugend der Demut kreisen zu lassen. Das aus dem Hochdeutschen 'diomuoti' (Gesinnung eines Dienenden) stammende Wort hat einiges in sich, wenn es um die Klärung des eigenen Führungsverständnisses geht. Ich wünsche allen Leserinnen und Leser dieses Blogs frohe Weihnachten und einen erfolgreichen, weil entspannt angegangenen Start ins neue Jahr.

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news-69 Fri, 26 Nov 2021 21:00:00 +0100 Leistungsbeurteilung von Menschen in komplexen Systemen https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/leistungsbeurteilung-von-menschen-in-komplexen-systemen/ Ist es zielführend, wenn Arbeitsfehler im englischen besser als «honest mistake» bezeichnet im Personaldossier der unglücklichen Akteure landen? Diese immer noch weit verbreitete Praxis ist eines der konkreten Hindernisse für eine gelebte Vertrauenskultur. Mentale Barrieren in den Köpfen von Führungskräften sind die Blocker. Können wir darüber reden?

In den letzten Blogartikeln war immer wieder die Rede vom komplexen Arbeitsumfeld. Weitherum können wir beobachten, wie uns die Kosten des Fortschritts in Form von zunehmender Komplexität präsentiert werden. Seien es neue Produkte, Dienstleistungen, Verträge oder Gesetze. Sie alle entstehen aus einem Umfeld, welches in atemberaubendem Tempo komplexer wird. Oder sie selbst drehen an der Schraube der Komplexität. «Mastering Complexity» wird zum Anspruch, nicht nur für Führungskräfte. Schaffen wir das? Nun, wenn darin der Wunsch nach einer Rückgewinnung der Kontrolle gemeint sein sollte, wird die Erwartung zwangsläufig zu einer Enttäuschung führen. Die Antwort liegt eher in einer geschickten und intelligenten Einflussnahme. Das mag für einige etwas gewöhnungsbedürftig sein. Ich fürchte, dass hier eine Anpassungsleistung an die Realität im Raum steht.

Komplexe Systeme habe die angenehme Seite, neue Dinge möglich zu machen. Und sie haben die unangenehme Seite, dass sie zu Systemversagen führen können, ohne dass die einzelnen Funktionen ihre definierten Leistungsgrenzen zu überschritten brauchen. Das Phänomen der funktionalen Resonanz kann erwirken, dass mit einer zufälligen Überlagerung von tolerierbaren Leistungsabweichungen einzelner Funktionen ein unerwünschtes Ereignis eintreten kann. Zufällig.

Wie wir den Menschen vor seiner Fehlbarkeit zu schützen versuchen

Die meisten Systeme sind rund um den Menschen gebaut. Er übernimmt i. d. R. nach wie vor eine wichtige Funktion. Seine Fehlbarkeit wird mit einer Vielzahl von technischen und organisatorischen Mitteln auf ein akzeptables Mass reduziert. So werden Piloten in modernen Cockpits durch eine computergarantierte ‘Envelope Protection’ am Verlassen der aerodynamischen Enveloppe der Maschine gehindert. Denn ein solches wäre nicht nur ein furchteinflössendes Manöver für die Passagiere, sondern könnte auch die Ursache für einen Absturz sein. Was nicht mehr und nicht weniger heisst, als dass man die Piloten noch steuern lässt, aber nur bis zu einem vordefinierten Grad. Das fühlt sich übrigens so an, als wenn man Sie daran hindern würde, die Strasse zu überqueren, ohne zuerst nach links und rechts geschaut zu haben. Ein nur bedingt gutes Erlebnis. Mit organisatorischen Massnahmen, die dem freien Handeln des fehlbaren Menschen Grenzen setzen, sind bspw. Regeln, Prozessvorgaben und Kompetenzbeschränkungen gemeint. Bei zunehmender Komplexität ist es nicht verwunderlich, dass wir je länger, je mehr in einer Flut von Gesetzen und Vorgaben zu ersticken drohen. Sie alle sind Ausdruck des Versuchs, die Fehlbarkeit des Menschen auf ein tolerierbares Mass zu beschränken, um damit die Kontrolle nicht zu verlieren. Das alles funktioniert leidlich gut. Wir sollten mit dem bisher erreichten zufrieden sein, wenngleich es mit der Akzeptanz von gewissen Risiken einhergeht. Wissen wir doch heute, dass ein Mehr an Regulation nicht mehr Sicherheit oder Zuverlässigkeit bedeutet. Wir haben das jetzt ausgereizt.

Vom redlichen Umgang mit dem Fehler

Lassen Sie uns noch einmal vor Augen führen, dass das Eintreten gewisser Risiken in komplexen Systemen der Zufälligkeit geschuldet ist? Sie kann sich nur ergeben, wenn darin zufällig eine Überlagerung von mehreren (im einzelnen tolerierbaren) Funktionsabweichungen auftreten. Sobald ein Mensch mit seinem Handeln oder Unterlassen in einem so zustande gekommenen unerwünschten Ereignis involviert war, neigen wir dazu, dass sich alle Blicke auf ihn richten. Ist es redlich, wenn sich herausstellt, dass er die Grenzen seiner ihm ‘vorgegeben Enveloppe’ nicht verlassen hat? Dass er weder vorsätzlich noch grobfahrlässig gehandelt hat? Dass er mit einer intakten inneren Haltung in eine Situation verwickelt wurde, die zu einem nicht beabsichtigten Vorfall führte? Er trug, davon können wir in den meisten Fällen ausgehen, dazu bei, dass es geschehen konnte. Vielleicht mit einer Unachtsamkeit, die allein jedoch nicht zum unerwünschten Resultat geführt hätte. Wäre es redlich, wenn dieses dem Zufall geschuldete Vorkommnis den Weg in seine Personalakte finden würde? Wie fair ist es, wenn solch spontane Fehlbarkeiten für die Qualifizierung eines Mitarbeiters oder einer Führungskraft herbeigezogen werden? Wie fair sind die Seitenblicke der Kolleginnen und Kollegen, die üblicherweise mit ihm zusammenarbeiten? Wir sind oftmals gnadenlos. Und wir sind oftmals unanständig undifferenziert. Wer bemüht sich schon darum, all die anderen Einflüsse in Erfahrung zu bringen, die zum Ereignis beigetragen haben? Wer startet den Versuch der Komplexität gerecht zu werden? Wer schafft es, einer einzelnen Fehlbarkeit nicht die Bedeutung einer qualifikatorischen Dimension zu geben?

Von guter Führung

Das alles hört sich für einige Leserinnen und Leser bestimmt wie ein Plädoyer für eine Generalamnestie an. Als ein Versuch, Mitarbeitende und Führungskräfte in komplexen Arbeitsumfeldern generell vom Hacken zu nehmen. Als eine Argumentation, keine Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Als ein Zeichen der Schwäche. Nun, dieses Bild kann nur bei jemandem entstehen, der dem fehlbaren, in das Ereignis verwickelten Menschen die Absicht unterstellt, keine Verantwortung übernehmen zu wollen. Das ist heftig. Ich kenne keine Ärzte, keine Piloten, keine Fluglotsen und keine Operateure in Kernkraftwerken, die so mit Verantwortung umgehen. Wie sollte unter einem solchen Mindset je Vertrauen aufkommen? Indem ich als Führungskraft oder Kollege meinen Erwartungen an die Unfehlbarkeit fröne und jedem, der sie nicht zu erfüllen vermag, unabhängig davon, wie sich die Begebenheiten darstellen, mit Skepsis und Anschuldigungen begegne? Dass dies korrosive Gedanken sind, braucht hier nicht weiter ausgeführt werden. Dass sie einer Misstrauenskultur das Wort reden, ist offensichtlich. Einer Kultur, die es schwer haben dürfte, in einer Hochverfügbarkeitsorganisation für Zuverlässigkeit und Sicherheit zu sorgen. Im Spital, im Kernkraftwerk, in der Airline oder im Bahnbetrieb, um nur einige zu nennen.

Wer sich als Führungskraft dazu verleiten lässt oder es gar richtig findet, dass Vorkommnisse der geschilderten Art für die Qualifikation von Beteiligten herbeigezogen werden sollten, der darf sich nicht wundern, wenn ihm selbst die Qualifikation als Manger in einer High Reliability Organisation abgeht.

Der Arbeitsfehler, besser der ‘honest mistake’, hat in einem Personaldossier nichts zu suchen.

Wenn Sie es schaffen, als Führungskraft in ihrem Verantwortungsbereich dieses Grundprinzip der Just Culture zu verankern, dann werden Sie überrascht sein, was passiert. Zweifeln Sie? Dann kontaktieren Sie mich. Ich kann Ihnen die Auswirkungen anhand konkreter Beispiele aufzeigen.

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news-67 Fri, 12 Nov 2021 20:00:00 +0100 Falsches Auge operiert https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/falsches-auge-operiert/ Das Gesundheitssystem kämpft mit Fehlbehandlungen, die an die Öffentlichkeit kommen. Es sind unschöne Geschichten, nicht nur weil sie mit dem Leiden von Patientinnen und Patienten verbunden sind, sondern weil sie allzu oft nicht fürs Lernen genutzt werden. Was steckt dahinter?

Gestern hat sich die Journalistin Alexandra Bröhm vom Tages Anzeiger mit einem Artikel an die Leserschaft gewendet, der uns Einblick in eine dunkle und unschöne Seite unserer Gesellschaft gibt. Einer Gesellschaft, die lieber Fehler ahndet, als daraus lernen zu wollen.

Sie erzählt von Operationen am falschen Auge, von der Amputation zweier Brüste bei einer Patientin, bei der eigentlich nur ein kleiner Eingriff geplant war und vom Verabreichen von falschen, weil verwechselten Medikamenten. Vordergründig geht es um das Versagen von Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden. In Anbetracht des unerhörten Leids der betroffenen Patienten haben diese Geschichten das Potenzial, Wut und Empörung bei der Leserschaft auszulösen. An wen sich diese richten, ist klar. Schlampige Arbeit der Ärzteschaft und oder der Pflege. Doch das greift viel zu kurz. Denn es mutet schon ein wenig abenteuerlich an, unseren Gesundheitsprofis generell eine lasche Arbeitshaltung zu unterstellen. Im Zentrum der Fehlervermeidung geht es vielmehr ums Lernen aus unerwünschten Ereignissen. Alexandra Bröhm kritisiert daher zu Recht die Unfähigkeit des Gesundheitswesens in der Schweiz ein zentrales Register für Meldungen von Arbeitsfehlern einzurichten. Ein solches wäre die Basis für Lernsysteme, die Verbesserungen bewirken und das Zustandekommen von ‘Never Events’ reduzieren oder ganz verhindern könnten. Doch auch das greift noch zu kurz. Mehr dazu später.

Never Events

Als ‘Never Events’ werden im Artikel Vorkommnisse bezeichnet, die sich nie zutragen dürften. Dass dem Begriff eine unrealistische Hoffnung innewohnt, braucht nicht speziell erwähnt zu werden. Wir Menschen sind nun mal fehlbar. Viel unglücklicher ist der Umstand, dass mit dem Begriff das Resultat eines Ereignisses adressiert wird und nicht die Gründe, die dazu geführt haben. Doch nur die sind von Interesse, wenn es darum geht, das Gesundheitswesen sicherer zu machen. Liebe Ärzteschaft, liebe Pflegende, liebe Patientensicherheitsexperten oder wer auch immer den Begriff ‘Never Event’ ins Spiel gebracht haben mag: Bitte löst euch von ihm. Er führt in die falsche Richtung. Es geht doch nicht um die Never Events! Es geht um die ‘Never Causes’! Es darf gewisse Gründe nicht geben, die zu einem Vorkommnis führen. Das ist entscheidend und nur das.

Der Mensch ist stets in ein System eingebunden und Einflüssen ausgesetzt

Erst die Ausrichtung auf die Ursachen macht den Blick frei für all die kontextbedingten Einflüsse, die ein Ereignis begünstigen oder triggern. Ähnliche Verpackungen für Medikamente mit unterschiedlichen Wirkungen, schlecht aufgesetzte Arbeitsprozesse, Zeitdruck, fehlende Ressourcen und vieles mehr. Ärztinnen, Ärzte und Pflegende sind bei ihrer Arbeit in Umfeldern tätig, die sie unablässig beeinflussen. Wenn sie Handlungen ausführen, die zu ungewollten Resultaten führen, so waren stets solch hinderliche Einflüsse situationsprägend mit im Spiel. Doch weil sie als Akteure Teil der Geschichte sind, müssen sie, wenn sie Meldung erstatten, damit rechnen, dass sie sanktioniert werden. Weil sie von Menschen be- und verurteilt werden, die nicht auf Ursachen (‘Never Causes’), sondern auf ‘Never Events’ fixiert sind.

Es ist dieser unselige, festverdrahtete mentale Prozess mit seinem Fokus auf das Resultat, der uns den Blick auf die Ursachen vernebelt. Er ist einer der Gründe, die dazu führen, dass keine Meldesysteme gebaut und gepflegt werden. Meldesysteme, die die Meldenden schützen und die sich die Ursachenfindung auf die Fahne geschrieben haben. Die unreflektierte und meist ungerechte Personifizierung der Ursache hat zu unserem Strafrecht und zu unserem Gerechtigkeitsempfinden geführt. Wir sollten das überdenken und uns fragen, was uns den wichtiger ist. Die Bestrafung der Akteure oder das gute Gefühl, sich als Patient dem Gesundheitswesen anvertrauen zu können. Einer Medizin, welche lernfähig ist und die das Risiko einer Fehlbehandlung kontinuierlich reduziert. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber mir ist die zweite Variante definitiv sympathischer.

Strafe verhindert Lernen

Es erstaunt mich nicht, dass ich in einem Kommentar des Artikels von Alexandra Bröhm lese, dass die Strafe für den fehlbaren Arzt, der fälschlicher- und unnötigerweise zwei Brüste amputiert hat, beschämend tief ausgefallen sei. Mit keinem Wort fragt die Kommentatorin nach den Gründen für das Vorgefallene. Wie die Maus vom Blick der Schlange hypnotisiert, sieht sie nur das Resultat. Es ist schrecklich, ausser Frage. Doch die Bestrafung des Arztes hat einen viel grösseren Schaden angerichtet. Sie hat Lernen verhindert und die Gefahr im Raume stehen lassen, dass sich derselbe Fehler wieder und wieder zutragen kann und sich das Leid multipliziert statt reduziert. Das Einzige, was der unglückliche Mediziner als rationale Lehre aus der Geschichte mitnehmen kann, ist: Schweigen ist tatsächlich Gold.

Wenn wir dem irrigen Glauben nachleben, dass sich im Gesundheitswesen mit einem nachdrücklichen Aufruf an alle Ärztinnen, Ärzte und Pflegende, sich doch bitte ab sofort mehr Mühe zu geben, die Dinge zum Besseren wenden werden, dann sind wir auf dem Holzweg. Wir müssen verstehen, dass wir damit den Sack schlagen, aber den Esel meinen. Ein substanzieller Teil der Schweizer Gesundheitsorganisationen verfügt heute immer noch nicht über ein Managementsystem, welches die Ereignisse erfasst, analysiert und mit adäquaten Massnahmen das Risiko reduziert. In der Luftfahrt sind diese Managementsysteme nicht nur regulatorisch gefordert, sondern zu einer kulturell verankerten Selbstverständlichkeit geworden. Werte Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Gesundheitssystem wäre es nicht an der Zeit, sich von diesem nicht mehr nachvollziehbaren Mangel zu befreien? Es geht ja nicht nur um eine Verbesserung der Patientensicherheit, sondern auch um Reputation.

Doch bei allem dürfen wir eines nicht übersehen. Die Kritik an den Akteuren des Gesundheitswesens greif da zu kurz, wo wir als Bürger und Bürgerinnen gefordert wären. Wir lassen nämlich rechtliche Rahmenbedingungen zu, die es den Institutionen im Gesundheitswesen in der Schweiz nicht erlauben, ihre Meldepersonen im Zusammenhang mit Arbeitsfehlern vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen. Daher sollten wir uns nicht verwundern, wenn die Akteure stumm bleiben und das Gesundheitswesen in diesem Bereich keine Fortschritte macht.

Die Politik steht in der Verantwortung

Unsere direktdemokratische Untätigkeit mit Nachdruck die erwähnten gesetzlichen Rahmenbedingungen bei der Politik zu fordern, beschert uns gemäss einer Schätzung des Bundesamts für Gesundheit jährlich 2000 Tote. Menschen, die wegen vermeidbarer Fehler und Komplikationen gestorben sind. Empörung und Appelle nützen da herzlich wenig. Wir sind aufgerufen, unsere Politikerinnen und Politiker in die Pflicht zu nehmen. Es darf nicht sein, dass sich das Parlament im nächsten Jahr, wenn es sich mit dem Postulat ‘Redlichkeitskultur im Schweizer Recht’ befasst, wieder untätig bleibt. Wenn es sich einmal mehr mit der althergebrachten Perspektive mit dem Thema auseinandersetzt, die geprägt ist vom überholten Reiz-Reaktions-Modell: Wo Fehler ist, muss Strafe sein. Ich zumindest gehe davon aus, dass wir von unseren Volksvertreterinnen und Vertreter ein Denken in etwas anspruchsvolleren Zusammenhängen erwarten dürfen. Ebenso glaube ich, dass nicht nur die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen, sondern auch unser Parlament lernfähig sind.

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news-65 Mon, 01 Nov 2021 10:24:00 +0100 Unsere Vorstellung davon, wie es zu unerwünschten Ereignissen kommt, bei denen der Mensch die Hand im Spiel hat, braucht dringend ein Update! https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/unsere-vorstellung-davon-wie-es-zu-unerwuenschten-ereignissen-kommt-bei-denen-der-mensch-die-hand-im-spiel-hat-braucht-dringend-ein-update/ In komplexen Systemen neigen wir dazu, dem Menschen und seinen Handlungen eine zu grosse Bedeutung beizumessen. Damit relativieren wir die Einflüsse, die alle anderen Funktionen in einem System auf das Zustandekommen des Resultats haben. Spätestens bei der Frage nach seiner Verantwortung im Ereignisfall wird diese Betrachtung unredlich, weil sie nicht der realen Sachlage entspricht.

Unser Hirn wurde in einer Zeit formatiert, in der es zwischen Ursache und Wirkung stets einen direkten kausalen Zusammenhang gab. Die Handlungen des Menschen führten zu einem Resultat, welches nur aufgrund seines Tuns entstehen konnte. Mit Betonung auf 'nur' im Sinne von ausschliesslich. Es war die Zeit der einfachen Systeme. Kausalität, wohin man blickte. Alles stand in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zum anderen. Gute alte Zeit. Nicht, dass wir uns ganz von diesen Ursache-Wirkungsketten verabschiedet hätten. Nein, es gibt sie (zum Glück) immer noch, wenngleich wir sie in der modernen Arbeitswelt regelrecht suchen müssen. Schauen wir uns hingegen etwas um und betrachten das Umfeld der arbeitstätigen Menschen etwas genauer, so zeigt sich ein völlig anderes Bild. Sie geben Inputs in Systeme, welche ihnen ein Resultat präsentieren, ohne dass sie in der Lage wären, nachzuvollziehen, wie es zustande kam. Sie arbeiten mit Outputs von Blackboxes, ohne ihre innere Logik zu kennen. Der Umstand, dass sich etwas zwischen dem handelnden Menschen und seiner Leistung installiert hat, ist eines der Merkmale unserer heutigen Arbeitswelt. Es relativiert seine Ursächlichkeit und müsste ihn in gleichem Masse von seiner vollen Verantwortung entbinden. Damit tun wir uns allerdings sehr schwer.

Doch das ist nur ein Aspekt der neuen Arbeitswelt. Der andere ist die Zunahme der Komplexität. Viele von uns, ich wage zu behaupten, dass es die Mehrheit ist, sind in grosse Systeme eingebettet, in denen sie ein kleiner Knotenpunkt in einem riesigen Netzwerk sind. Das Bild des winzigen Rädchens im grossen Räderwerk gehörte als Metapher zur Industrialisierung, welche wir schon lange hinter uns gelassen haben. Es zeigte auf anschauliche Weise die mechanische Ursache-Wirkungskette und ihre Kausalität. Das war einmal.

In ein Netzwerk eingebunden

Im Netzwerk aber bin ich nur noch beeinflussend tätig und ich kann nicht sagen, welchen Output meine Inputs genau zur Folge haben. Wir haben die Steuerbarkeit unserer Systeme weitestgehend verloren und beschäftigen uns mit Einflussnahme. Gibt es einen Menschen, der uns das Handy bis ins Detail erklären kann? Ich zweifle. Brauchen wir das? Nein, denn wir lernen es über unterschiedliche Inputs (Einflussnahmen) verstehen und bedienen. Oder lesen sie tatsächlich noch Bedienungsanleitungen? Der Umstand, dass wir nur noch beeinflussen, aber nicht mehr wirklich steuern und kontrollieren können, sorgt auch dafür, dass wir nurmehr indirekt ursächlich sind und wir bestenfalls eine Mitverantwortung tragen können, sollte sich etwas Unerwünschtes zutragen.

In der heutigen Arbeitswelt sind wir gefangen im Netz von unzähligen Funktionen, die das System zusammenhalten und leistungsfähig machen. Wir beeinflussen mit unseren Handlungen und wir werden von den anderen Funktionen beeinflusst. Jede Funktion im System dient einem Zweck und ist normalerweise genau beschrieben und geregelt. Als Beispiele, um nur einige zu nennen, können uns die folgenden hilfreich sein: Auswahl von Mitarbeitenden und Kader, Ausbildung, Vorgaben und Regelwerke, Verträge, Führungssysteme, technische Systeme, Kommunikation und last but not least die Leistung (Handlungen) des Menschen im System. Für jede Funktion bilden die anderen die Umgebung, weil sie alle im System miteinander interagieren. Alle diese Funktionen haben eine normale und akzeptierte Variabilität. Das heisst, sie dürfen in einem gewissen Mass schwanken und das tun sie auch. So haben technische Systeme eine ‘Mean Time Between Failure rate’ (MTBF). Damit wird die erwartete Zeit zwischen zwei Ausfällen für ein reparierbares System beschrieben. Die Verfahren für die Auswahl von Führungskräften haben sich weit entwickelt, doch sie bieten uns keine hundertprozentige Gewähr, den oder die Richtige zu finden. Die Kommunikation im Unternehmen erfüllt in der Regel ihre Zwecke und doch kommt es immer wieder zu Misskommunikation oder Missverständnissen. Und last but not least kann uns Menschen im System trotz erfolgreicher Ausbildung und genügender Erfahrung ein Missgeschick zustossen, das zu einem unerwünschten Ereignis beiträgt. Auch bei einer intakten inneren Haltung, variiert unsere Leistung. Wir sind fehlbar, wie alle anderen Funktionen im System auch.

Funktionale Resonanz

Wenn wir ein System so betrachten, können wir verstehen, dass es zu zufälligen Überlagerungen von Schwankungen verschiedener Funktionen kommen kann, die einen Vorfall produzieren. Dies, obwohl in keiner Funktion die Schwelle des Tolerierbaren überschritten worden wäre. Alles hat so funktioniert, wie es funktionieren soll. Nur das System als Ganzes hat versagt. Wir haben es mit dem Phänomen der ‘funktionalen Resonanz’ zu tun.

In einer solchen Welt die Vorstellung aufrecht zu erhalten, dass der Akteur vor Ort immer direkt kausal für das im System entstandene Resultat voll verantwortlich ist, ist ein starkes Stück. Sie reduziert die Betrachtung auf eine Funktion, den Menschen und blendet alle anderen Einflüsse aus. Es ist eine Realitätsverzerrung erster Güte und unredlich obendrauf. Wenn diese Sicht von Führungskräften hochgehalten wird, ist es Ausdruck einer Haltung, mit dem Ganzen nichts zu tun zu haben, um sich so möglicherweise vor der eigenen Mitverantwortung zu drücken. Wir sind in der Welt des Miteinanders und der komplexen Systeme angekommen.

Fazit

Die funktionale Resonanz konfrontiert uns mit dem schwer hinzunehmenden Umstand, dass sich Vorfälle oder Unfälle in komplexen Systemen mit einer unberechenbaren Zufälligkeit ereignen können. Was das für die Organisationen und Unternehmen bedeutet, die sich im Hochrisikoumfeld bewähren müssen, darauf werde ich in den nächsten Blogbeiträgen eingehen. So viel vorneweg: Alle, die noch in der Vorstellung leben, das menschliche Handeln an der Front folge in der modernen Arbeitswelt der Ursache-Wirkungskette und könne als einzige taugliche Begründung für das Resultat betrachtete werden, müssen sich den Vorwurf der sozialromantischen, industriell geprägten Träumerei gefallen lassen. Sie benötigen dringend ein Update, wenn sie in komplexen Systemen Hand anlegen wollen.

News
news-63 Sun, 17 Oct 2021 12:55:00 +0200 Warum wollen wir Individuen für das Versagen unserer Systeme beschuldigen? https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/warum-wollen-wir-individuen-fuer-das-versagen-unserer-systeme-beschuldigen/ Anfangs Monat hat es Facebook erwischt. Der Totalausfall hat und vor Augen geführt, wie fragil und letztlich unzuverlässig dieses monströse Netzwerk aufgebaut ist. Doch was bekommen wir zu hören? Menschliches Versagen sei es gewesen. Wird uns auch in diesem Fall erklärt, dass das System perfekt und nur der Mensch fehlerhaft ist?

Schon wieder lesen wir vom Versagen eines grossen Systems. Während über sechs Stunden wurde Facebook anfangs Oktober von einem Totalausfall heimgesucht. Auch WhatsApp und Instagram waren vom Internet abgeschnitten.

Gemäss Aussagen von Internetexperten ist der Absturz auf menschliches Versagen zurückzuführen. Es soll sich um ein fehlerhaftes Update eines Border Gateway Protokolls (BGP) gehandelt haben. Dieses funktioniert offenbar wie ein Navigationssystem, indem es das Internet nach Adressen absucht und diese Informationen an die gewünschten Stellen weiterleitet. Fragen Sie mich bitte nicht mehr. Ich gebe hier nur Netzwerk-Knowhow von Experten, aufgearbeitet für Dummise, wieder. Wenn das BGP nicht richtig funktioniert, kann ein einzelnes Unternehmen, ein ganzes Land oder ein ganzer Kontinent vom Internet abgeschnitten werden. Es haben, so die Experten, nur wenige Angestellte Zugriff auf den Update-Mechanismus eines BGP. Nur ganz wenige sind berechtigt, Änderungen am Navigationssystem vorzunehmen.

Wie würden Sie als Verantwortungsträger reagieren?

Nehmen wir an, es wäre ein einziger Netzwerktechniker oder eine einzige Programmiererin gewesen, die das Backbone-System des mittlerweile 1000 Milliarden schweren Unternehmens Facebook von Netz getrennt hätten. Und stellen Sie sich vor, Sie wären diesen Mitarbeitern disziplinarisch vorgesetzt. Was ginge Ihnen durch den Kopf? Wäre es Ihnen in Anbetracht des enormen Schadens übel zu nehmen, wenn Sie den Verdacht hegten, dass Ihre Teammitglieder nicht mit der geforderten Sorgfalt am Werk waren. Dass Sie sie daher beschuldigen, keinen guten Job gemacht zu haben? Es ginge Ihnen möglicherweise gleich wie den zahlreichen Fachexperten, die zur Auffassung gelangt sind, dass es sich einmal mehr um menschliches Versagen gehandelt hat.

Warum nur, so frage ich Sie (und alle Experten), reduziert sich Ihre Wahrnehmung auf den Menschen und blendet das hochkomplexe, aber misslich gezeichnete System völlig aus? Ein System, das nur wenige noch verstehen. Ein System, welches uns Fachexperten in seitenlangen Erklärungen nicht zu vermitteln vermögen. Auch dann nicht, wenn Sie sich bemühen, in einfacher Sprache zu sprechen und Metaphern und Analogien verwenden, die uns deutlich signalisieren, dass bei uns Hopfen und Malz verloren ist und wir uns besser um andere Dinge kümmern sollten.

Doch genau das sollten wir nicht tun! Wir sollten aufstehen und uns gegen derart verletzliche und fragile Systeme zur Wehr setzten. Nur weil ein System kein Mensch ist, heisst das noch lange nicht, dass wir es bei unserer Beurteilung nicht mitberücksichtigen und nur noch den Menschen mit seiner Fehlbarkeit sehen. Auch ein System hat Anerkennung und damit eine Anklage verdient. Es darf nicht ungeschoren davonkommen.

Es ist bei Lichte besehen nicht so, dass in diesem Fall ein Mensch versagt hat. Es ist die seichte Leistung eines misslich konzipierten Systems, in welchem grobe Designmängel und technische Unterlassungen inakzeptable Fehlleistungen zulassen. Es ist ein System, in welchem dem Menschen eine völlig inadäquate Rolle zugewiesen wird. Oder haben wir vergessen, dass Menschen fehlbar sind?

Warum nur wollen wir Individuen für das Versagen unserer Systeme beschuldigen?

Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich auf zwei Hypothesen eingehen und weiss, dass sie sie allein nicht abschliessend beantworten können. Zu komplex sind die Mechanismen, als dass es für ihre Erklärung eine einzige, 'richtige' Geschichte gäbe.

Macht

Naheliegend ist es, dieses unangemessene Beschuldigen von Individuen damit zu erklären, dass es sich um das rohe Ausüben von Macht handelt. Bei jedem Versagen eines hochkomplexen Systems gibt es Menschen, Organisationen oder Institutionen, die ihre Güter, ihre Dienstleistungen oder ihre Reputation zu verteidigen suchen. Sie tun dies, indem sie im Ereignisfall einzelne Mitarbeiter oder Führungskräfte opfern. Das legt den Verdacht nahe, dass es der Schutz solcher Interessen ist, der die Handlungen von Individuen mit Schuld belegen oder in gewissen Fällen gar kriminalisieren. Es geht dabei darum, so von schlecht aufgesetzten Systemen abzulenken, für die Führungskräfte die Verantwortung zu tragen hätten. Dass dies im konkreten Fall eine grobe Unterstellung sein kann, liegt auf der Hand. Dass es praktiziert wird, wissen wir alle.

Organisationen, in denen solche Praktiken zu finden sind, leiden intern unter einer Misstrauenskultur. Werden solche Vorgänge öffentlich, stellt sich unweigerlich ein Vertrauensverlust bei der Kundschaft und allen anderen Anspruchsgruppen ein. Wenn solche Unternehmen ihre organisational und systemisch angelegten Risiken unter Kontrolle bringen wollen, haben sie einen weiten Weg zu gehen. Der beginnt mit der Verabschiedung vom Röhrenblick auf die Fehlbarkeit des Menschen. Er bedingt die Wahrnehmungsöffnung hin zur systemischen Perspektive. Das ist ein unangenehmer Prozess, für den es sich lohnt, einen Change Agent, einen Coach zur Seite zu nehmen. Immer wenn es um die Überwindung von intuitiv ausgelösten Reaktionen geht (Anschuldigung von Individuen), wird es zäh und es braucht Ausdauer und Geduld. Es ist der Weg der zur Zuverlässigkeit, Sicherheit und Resilienz der Organisation und ihrer Güter und Dienstleistungen führt.

Angst

Wenn wir heute den Bericht einer Flugunfalluntersuchung lesen, der von einer professionellen Behörde geschrieben wurde, so erkennen wir, dass es für Katastrophen nicht einen Grund gibt. Das gilt auch für Desaster, die sich in anderen hochkomplexen soziotechnischen Systemen ereignen. Vielmehr haben Dutzende von Faktoren einen Einfluss und sind mitverantwortlich für den Misserfolg. Nur durch ihr gleichzeitiges Eintreten oder Wirken kann es zum Unfall kommen. Dieses gleichzeitige Zusammenwirken ist, wir müssen es uns eingestehen, so schmerzhaft es auch sein mag, reiner Zufall. Die Komplexität bspw. des heutigen Luftfahrtsystems ist derart gross, dass die Schwankungen seiner einzelnen Funktionen zu Katastrophen führen können, obwohl alle alles richtig gemacht haben. Das ist eine erschreckende Erkenntnis die Angst macht.

Diese Angst ist im Umstand begründet, dass wir die totale Kontrolle über die von uns entworfenen und betriebenen komplexen Systeme nicht mehr haben. Wir fürchten uns vor der Möglichkeit, dass sie aufgrund der verflochtenen, alltäglichen Interaktionen, die sich darin abspielen, versagen können. Es wäre für uns viel einfacher und wir würden es sehr begrüssen, wenn solche Systemversagen einen einzelnen, nachvollziehbaren und kontrollierbaren Grund hätten. Bei der Ursachenfindung sind wir daher nicht pingelig, es muss nicht unbedingt alles auf den Tisch. Denn das macht Angst. Uns würde vor Augen geführt, dass wir es mit Kontrollverlust zu tun haben. Wie beruhigend ist es da, sich einzureden, dass es sich wieder einmal um menschliches Versagen gehandelt hat. Die Schuldzuweisung an einzelne Menschen, ihre Bestrafung und damit ihre Kriminalisierung ist daher auch ein Schutzmechanismus, der uns davor bewahrt, der Realität mit ihrer schrecklichen Fratze ins Gesicht sehen zu müssen.

Warum nehmen wir an, dass unsere Systeme okay sind?

Wie wir gesehen haben, kommt unser IT-Fachexperte in seiner Analyse des Facebook-Totalausfalls zum (selbst)-beruhigenden Schluss, dass es menschliches Versagen gewesen sein muss. Wie unerträglich wäre es für ihn, er müsste sich eingestehen, dass er ein Spezialist in einem Wirtschaftszweig ist, der derart marode und unzuverlässige Systeme produziert. Angesagt wäre Bescheidenheit und Ehrfurcht vor dem, was er mitgeholfen hat aufzubauen.

Achten Sie sich das nächste Mal, wenn Sie von einem Unfall oder einem gravierenden Ereignis in Ihrem Umfeld erfahren. Was präsentiert Ihnen die Presse, das betroffene Unternehmen oder Ihre Intuition als Ursache? Sollte es wieder einmal ein Sündenbock sein, achten Sie sich auf die beruhigende Ausstrahlung dieser Annahme. Achten Sie sich gleichzeitig, dass das System, in welchem es zum Vorfall kam, keine Beachtung findet und es im Schatten der Anklage des Schuldigen sein fehlerhaftes Dasein unbehelligt weiterführen kann.

News
news-61 Fri, 01 Oct 2021 20:30:00 +0200 Warum wir anschuldigen https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/warum-wir-anschuldigen/ Wenn wir uns aufmachen, mit dem Fehler anders umzugehen, müssen wir uns mit dem Konzept der psychologischen Sicherheit auseinandersetzen. Dabei geht es als Führungskraft darum, ein angstfreies Umfeld zu schaffen. Der gösste Stolperstein bei diesem Vorhaben ist der Umgang mit der Anschuldigung.

Die Anschuldigung ist der wohl problematischste Übeltäter in einer Sicherheitskultur. Sie tangiert den Kern der Fehlerkultur, weil sie das Vertrauen untergräbt. Somit lohnt es sich dazu, ein paar Gedanken zu machen. In diesem und in den nächsten Blogartikeln werde ich auf einzelne Aspekte eingehen, ohne den Anspruch zu haben, das Thema ganzheitlich anzugehen. Vielmehr soll die hier geführte Auseinandersetzung all jenen Gedankenanstösse und Impulse geben, die sich aufgemacht haben, das hehre Ziel einer angstfreien Kultur in die Tat umzusetzen.

Psychologische Sicherheit

Sie ist das Mittel dazu. Sie ist eines der aktuell heiss diskutierten Leadership-Themen. Die damit verbundenen Vorteile werden uns schon fast aufdringlich mit vielen gut gemeinten Appellen schmackhaft gemacht. Der Aufruf ist unmissverständlich: Macht mal vorwärts!» Doch warum hapert es mit der Umsetzung? Appelle helfen uns nicht, der Sache gerecht zu werden. Viel hilfreicher ist es zu wissen, was mit uns geschieht, wenn wir mit einem Fehler konfrontiert werden. Wenn wir eine Vorstellung davon haben, was uns unser Kopf als Idee, Vorstellung oder Handlungsanweisung präsentiert, wenn andere unsere Erwartungen, die wir an sie haben, nicht erfüllen.

Führungskräfte, die sich ihren Werten stark verpflichtet fühlen, sind besonders anfällig

Lassen Sie mich in diesem Beitrag mit einem Bezug zum letzten Blogartikel beginnen. Dort bin ich auf den Umstand eingegangen, dass wir nicht alle gleich reagieren, wenn wir gestresst unterwegs sind. Als Führungskraft mit einem Fehler konfrontiert zu werden, der sich im eigenen Verantwortungsbereich negativ auswirkt, ist mit Stress verbunden. Je nach der Neigung, die in unserer Persönlichkeitsarchitektur angelegt ist, fällt die Reaktion unterschiedlich aus.

Der Fehler ist für all jene eine besondere Herausforderung, die sich ihren persönlichen Wertvorstellungen besonders verpflichtet fühlen. Das sind Führungskräfte, die einen hohen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeit haben, die sich engagieren und denen verantwortungsbewusstes Handeln ganz wichtig ist. Es verwundert nicht, dass es sich dabei um Tugenden handelt, die bei Führungskräften häufig anzutreffen sind. Ein Fehler hat in dieser mentalen Prädisposition keinen Platz, weil er dem impliziten Anspruch dieser Vorgesetzten an die anderen nicht genügt. Er verlangt von den anderen, dass sie für die Führungskraft perfekt sind.

Ein Anspruch, der mental so verankerter ist, führt dazu, dass Vorgesetzte, unbemerkt und ungewollt die wertschätzende Position zur fehlbaren Person verlassen. Sie erheben sich über sie indem sie für sie nur noch bedingt oder gar nicht mehr okay ist. Die Anschuldigung ist dann der Ausdruck dieser individuellen, abwertenden Haltung. Der Beziehungsschaden ist angerichtet, bevor eine sachliche Einordnung der Umstände auch nur den Hauch einer Chance gehabt hat.

Wer sich seinen eigenen Werten gegenüber verpflichtet hat, ist besonders anfällig für unreflektierte Anschuldigungen. Diese Führungskräfte haben es persönlich nicht leicht die Führungsrolle in einer Organisation zu übernehmen, die die psychologische Sicherheit wertschätzt und den Fehler als Lernchance, ja als Motor einer gewinnbringenden Weiterentwicklung versteht. Für Führungskräfte mit einer solchen Neigung wird jeder Fehler zur happigen Trainingseinheit in Sachen Selbstkontrolle.

Eine breitere Betrachtung hilft

Was in diesem Prozess bisher völlig aussen vor gelassen wurde ist die Frage, ob die Anschuldigung sachlich denn überhaupt gerechtfertigt ist. Die Sache war ja noch gar kein Thema. Nur der Mensch war ein Thema. Es wurde eine Beziehung ramponiert, ohne zu wissen, ob es denn überhaupt einen Grund dafür gibt. Schade, dann damit wurde viel Vertrauen zerstört. Möglicherweise für nichts.

Das Ganze läuft so schnell ab, dass die Zeit fehlte, um der Frage nachzugehen, was denn die Gründe für das unbeabsichtigte Resultat (sprich Fehler) sein könnten. (Wir gehen stets davon aus, dass weder Absicht noch grobe Fahrlässigkeit im Spiel sind. Denn Fehler dieser Kategorie müssen mit anderen Handschuhen angefasst werden). Offen und damit unbeantwortet sind die Fragen nach den systemischen Einflüssen, den mitverursachenden Faktoren.

Seitdem wir wissen, dass es in komplexen Arbeitssituationen zu ungewollten Outcomes kommen kann, obwohl alle alles richtig gemacht haben, ist die Reaktion, den anderen anzuschuldigen völlig unverständlich. Sie wird der Sache nicht gerecht und ist unredlich, weil sie den ganzen Kontext in welchem es zur fehlbaren Handlung gekommen ist, ausblendet. Und trotzdem passiert es immer wieder vor. Nur weil das Bekanntwerden eines Fehlers bei Führungskräften mit der erwähnten Neigung einen Trigger für einen mentalen Prozess auslöst, der in der Führungskraft selbst stattfindet und der mit der Sache rein gar nichts zu tun hat.

Kennen Sie Ihre Exposition?

Bestimmt haben einige Leserinnen und Leser mit dieser Problemstellung als Führungskraft schon Bekanntschaft gemacht. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten und vor allem ihre persönliche Exposition in dieser Sache genauer kennenlernen möchten, dann lässt sich das mit einem Persönlichkeitsprofil von PCM (Process Communication Model) angehen. Kontaktieren sie mich, wenn sie Lust und Zeit dafür haben.

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news-59 Fri, 17 Sep 2021 17:00:00 +0200 Fehler managen – Teil 4: Energie-Management https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/fehler-managen-teil-4-energie-management/ Eine Sicherheitskultur, in der das Lernpotenzial des Fehlers breit anerkannt ist, kann nicht gelebt werden, wenn es den Führungskräften nicht gelingt, sich selbst zu führen. Die persönliche Reaktion auf bekannt gewordene Fehler ist der Schlüssel zum Erfolg. Doch wie soll das gelingen, wen man selbst im Stress ist?

Wenn wir uns als Führungskräfte vorgenommen haben, eine Kultur im Unternehmen zu leben, die den Fehler als Lernchance nutzt, so stellt dieses Commitment vorerst einmal eine nicht zu unterschätzende Anforderung an uns selbst. Wir müssen uns die Frage widmen, wie wir auf Fehler reagieren, wenn unsere Batterien leer sind.

Vielleicht haben Sie Folgendes bei sich selbst schon bemerkt. Immer wenn Sie gereizt oder etwas dünnhäutig unterwegs sind, zeigen Sie ein spezifisches Verhaltensmuster. Auslöser dazu kann ein Fehler sein, der jemand anders gemacht hat und der Sie unangenehm tangiert? Natürlich liegt es mir fern, Ihnen als Leserinnen oder Leser dieses Blogartikels eine generelle Gereiztheit zu unterstellen. Andererseits weiss jeder und jede, die reflektiv mit sich selbst unterwegs ist, dass das Leben und insbesondere die Arbeit als Führungskraft genügend Situationen und Konstellationen bereithält, die unser mentales Abwehrsystem herausfordern können. Solche Situationen können auch Fehler sein, die im eigenen Verantwortungsbereich passieren. Sie sind klassische Stressoren, die gemanagt werden wollen.

Einer, der sich mit solch fordernden Momenten beschäftigt hat, ist Taibi Kahler. Ein amerikanischer Psychologe, der die Verhaltensweisen von Menschen untersucht hat, die in einem nicht ausgeglichenen Zustand sind; wenn sie im Stress sind. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hat er in ein Modell (Process Communication Model) übertragen, welches uns ermöglicht, die Fähigkeiten zu erwerben, wie wir mit solchen Situationen klarkommen können. Kahler weist nach, dass unausgeglichene Zustände, vor allem, wenn sie lange andauern, in einer mangelnden Befriedigung von psychischen Bedürfnissen begründet sind. Damit sind u. a. Dinge gemeint, wie die Anerkennung einer erbrachten Leistung, die Anerkennung unserer Meinung und damit das Gutheissen unserer persönlichen Werte oder die bedingungslose Anerkennung als Mensch, so wie wir sind. Darunter fallen auch die Sehnsucht nach Action und der Wunsch nach Ruhe mit dem Bedürfnis allein sein zu können. Und andere mehr. Es versteht sich von selbst, dass wir viele davon in einem gewissen Mass benötigen, um ein ausgeglichenes Leben führen zu können. Kahlers Arbeit weist aber auf eine klare Bedürfnis-Hierarchie in jedem und in jeder von uns hin. Demnach sind nicht alle Bedürfnisse gleich wichtig für uns. Noch spannender an Kahlers Forschungsarbeiten ist sein wissenschaftlicher Nachweis, dass unsere Reaktionen im unausgeglichenen psychischen Zustand immer auf die selbe Art und Weise und damit vorhersehbar ablaufen. Und dass sie mit der mangelnden Stillung eines für uns wichtigen psychischen Bedürfnisses korrelieren. Er hat damit nachgewiesen, warum wir im Stress ein immer gleiches Verhaltensmuster zeigen.

Was geschieht mit uns, wenn wir unsere psychischen Bedürfnisse nicht befriedigt bekommen?

Nun, wir werden dysfunktional, erleben negative Emotionen und es fällt uns schwer, die Dinge rational zu sehen. Wir büssen Kooperationsfähigkeit ein. Unsere Reaktionen sind in solchen Situationen stets mit einer Abwertung einer Person verbunden - entweder des anderen oder von uns selbst. Die Herabsetzung des anderen ist in einer gelebten Fehlerkultur von besonderer Bedeutung. Es lohnt sich daher, diese etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Fest steht: Sie unterminiert das gegenseitige Vertrauen, weil wir die Erwartungen, die wir an andere haben, emotional und damit inadäquat kundtun. In diesen Ansprüchen an den anderen ist stets in unterschiedlicher Form und Ausprägung die Schuldzuweisung miteingewoben. Achten Sie sich, was Ihnen in solchen Situationen widerfährt! Sie haben eine Neigung in einer der unten beschriebenen Art und Weise zu reagieren. Das sind die Optionen in ihrer überdeutlichen Ausprägung:

  • Ihre Reaktion erfolgt von oben herab in Form eines Angriffs. Dieser ist eingepackt in Ihre Vorstellung, dass der andere zu dumm ist, um die Sache richtig zu machen. «Wie blöd muss man denn sein, um einen solchen Fehler zu machen?!»
  • Ihre abwertende Reaktion erfolgt von oben herab, ebenfalls in Form eines Angriffs. Diesmal jedoch argumentieren Sie anders. Sie erleben sich rechthaberisch und pochen darauf, dass eine seriöse und ernsthafte Erledigung des Jobs nun einmal eine grosse Bedeutung im Unternehmen hat. «Würdest du dir bei der Arbeit bitte die gebotene Mühe geben! Das werde ich wohl noch erwarten dürfen!
  • Ihre Reaktion ist eine kühle und tendenziell distanzierte Schuldzuweisung, die den anderen schmerzen soll. «Toller Mist, den du da gebaut hast. Tja, Fehlermachen hat stets unangenehme Konsequenzen. Damit musst du selbst klarkommen!»
  • Ihre Reaktion ist eine abgrenzende Schuldzuweisung bei er es darum geht, dass Sie sich schadlos halten können. «Wenn du Fehler machst, so ist das allein dein Problem. Mit mir hat das rein gar nichts zu tun.»

Es kann aber auch sein, das Sie in Situationen, in denen Sie als Führungskraft mit Fehlern von Ihren Mitarbeitenden konfrontiert werden, Erwartungen an sich selbst haben. Dann nämlich, wenn Fehler der anderen dazu führen, dass sie Sie verunsichern und Sie aus Ihrer Komfortzone in die Opferrolle drängen. «Er tut mir so leid! Was habe ich bloss falsch gemacht, dass meine Mitarbeiterin in diese schwierige Situation gekommen ist?» Diese Reaktion unterminiert die Beziehung zum andern nicht auf die gleiche Art wie die vier oben beschriebenen. Wir können sie daher in dieser Betrachtung beiseitelassen. Trotzdem ist sie für die Führungskraft, die dazu neigt, so zu reagieren, eine Herausforderung, mit der sie sich sinnvollerweise, auseinandersetzt.

Was das für den Umgang mit dem Fehler bedeutet.

Jede Form der Abwertung des anderen torpediert eine lebendige, auf Vertrauen basierte Sicherheitskultur. Dies insbesondere dann, wenn es Führungskräfte tun. Warum sollte ich zu meinem Chef oder meiner Chefin gehen, um zu hören, dass ich nicht okay sein, dass sie sich abgrenzen oder mir keine Unterstützung zusagen? Würde ich da von den Schwierigkeiten bei der Arbeit erzählen oder von eigenen Missgeschicken, die mir zugestossen sind? Was nützen die hehren Vorsätze, den Fehler positiv nutzen zu wollen im Leitbild der Firma, wenn im Alltag Führungskräfte mit leeren Batterien nicht in der Lage sind, das dafür notwendige Vertrauensverhältnis aufrecht zu erhalten. Sicherheitskultur wird nicht mit Appellen und schönen Absichten gemacht. Sie wird von Führungskräften getragen, die nicht nur wissen, warum sie den Fehler enttabuisieren und nutzen müssen. Sondern von Vorgesetzten, die auch in der Lage sind, sich selbst zu führen. So, dass sie über die notwendige Energie verfügen, um nicht beim kleinsten Windstoss aus einer wertschätzenden Position, dem anderen gegenüber, herauszufallen.

Selbstkontrolle und Energiemanagement

Achten Sie darauf, dass Ihre Batterien immer geladen sind. Gehen Sie aktiv der Frage nach, welche psychischen Bedürfnisse für Sie persönlich wichtig sind und kümmern Sie sich als Führungskraft darum, diese gestillt zu bekommen. Das Process Communication Model hält ein individuelles Profil für Sie bereit, das Ihnen zeigt, welche Stromladestellen Sie für die Befriedigung Ihrer psychischen Bedürfnisse anlaufen sollten. Damit sorgen Sie für Ihr persönliches Bollwerk gegen unliebsame Abstürze aus der Ich-OK-Du-OK-Position. Denn wenn Sie die Augenhöhe zum anderen nicht mehr halten können und Sie sich dabei erleben, wie sie andere gering schätzen oder mit Schuldzuweisungen eindecken, sind das alarmierende Signale. Sie verheissen nichts Gutes für die gelebte Sicherheitskultur im Unternehmen. Fragen sie sich selbst, welches Umfeld Sie benötigen, um aus Ihren Fehlern lernen zu können. Angst? Geringschätzung? Schuldgefühle? Eine emotionale oder eine sachliche Auseinandersetzung?

Das Process Communication Model (PCM) kann Ihnen präzise sagen, was für Sie wichtig ist, um so lange wie möglich auf der wertschätzenden Augenhöhe mit den anderen verbleiben zu können. Und es präsentiert Ihnen Ihre persönlichen Frühwarnzeichen, die Ihnen signalisieren, dass Stress im Anzug ist.

Wenn Sie Lust haben, nehmen Sie Kontakt mit mir auf.

News
news-57 Fri, 03 Sep 2021 20:00:00 +0200 Fehler managen - Teil 3: Die Beziehung zur fehlbaren Person https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/fehler-managen-teil-3-die-beziehung-zur-fehlbaren-person/ Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Sie ganz unterschiedlich auf Fehler die andere machen, reagieren? Es geht um Fehler, deren Konsequenzen Sie zu spüren bekommen. Es sind unzählige exogene Faktoren, die unsere Reaktion beeinflussen. Gut zu wissen, dass es auch Einflüsse gibt, die wir proaktiv managen können.

Stellen Sie sich vor, sie sind in einer dem Stereotyp entlehnten Mittelstandsfamilie mit Eigenheim und neu beschafftem Mittelklassewagen die Familienmutter oder der Familienvater. Sie kommen am Samstag als erstes Familienmitglied morgens vom Schlafzimmer in die Küche und finden diese Notiz des achtzehnjährigen Sohns auf dem Küchentisch. Was geht ihnen dabei durch den Kopf? Es ist selbstredend, dass es ganz unterschiedliche Dinge sind, die da aufpoppen. Es muss ja nicht gleich die philosophische Frage sein, die Sie zu beschäftigen beginnt und für deren Beantwortung Sie zuerst einen Kaffee zu sich nehmen müssen, was Ihnen mehr am Herz liegt, der Sohn oder der neu angeschaffte Wagen.

Lassen Sie uns dieselbe Situation in einem etwas geänderten Kontext noch einmal durchspielen. Diesmal sind Sie die erste Person in der Familie, die den Wagen am Samstagmorgen für den Einkauf benützen will. Sie finden die Post-It-Nachricht auf der Windschutzscheibe. Geschrieben von ihrer unliebsamen Nachbarin. Unliebsam, weil Sie seit Jahren mit ihr im Streit sind wegen der ungepflegten Bäume, die auf Ihre Seite des Gartens hinüberwuchern und für Laub und Schatten sogen. Und weil die Nachbarin die ärgerliche Angewohnheit hat, an Wochenenden grosse Partys im Garten zu schmeissen bei offenem, rauchigem Feuer und lauter Musik. Sie hat Ihrem neuen Wagen beim Einparken mit ihrem schon lange schrottreifen Fahrzeug denselben Kratzer zugeführt, wie im ersten Beispiel, das ihr Sohn bewerkstelligt hat. Was geht Ihnen nun durch den Kopf?

Lassen Sie sich ein wenig Zeit bevor Sie weiterlesen. Versuchen Sie sich in die Situation einzudenken und spielen sie kurz mit den Gedanken, die jetzt kommen.

Warum ist unsere Reaktion so verschieden?

Die Antwort liegt für den ersten innerfamiliären Fall bestimmt auf der Hand. Weil wir i. d. R. eine enge, wohlwollende Beziehung zu unseren Kindern haben. Sie hilft uns, empathischer zu sein. Es fällt uns nicht schwer, uns in die Situation des Sohns hineinzuversetzen. Das gibt uns die Möglichkeit verzeihen zu können. (Eine Fähigkeit, die gutes Fehlermanagement von Führungskräften immer wieder abverlangt). Die Beziehung ist geprägt von Vertrauen, denn wir wollen unsere Kinder nicht verletzten und wir verfolgen stets gute Absichten. Das haben wir in unzähligen Situationen bewiesen und unser Nachwuchs weiss das und vertraut uns deshalb.

Hinzu kommt, dass wir zum anderen den Kontext, in welchem der Vorfall sich ereignete, besser verstehen. Der Sohn handelte bestimmt nicht mit Absicht und seinen Führerschein hat er erst seit ein paar Monaten. Es war Nacht, als es sich ereignete. Und last but not least waren wir auch einmal jung. Diese wichtigen Informationen sind entscheidend für unsere Reaktion auf das Vorgefallene. Sobald wir in einer guten Beziehung zum anderen sind, fällt es uns viel leichter, den Kontext bei unserer Beurteilung des Vorfalls in Rechnung zu stellen und zu berücksichtigen. Dies, weil wir i. d. R. dank der engeren Beziehung besser in Kenntnis dieser kontextualen Gegebenheiten sind, in denen es zum Ereignis kam. In diesem Fall haben wir besonders viele Informationen vom Kontext, weil wir auf unsere eigene Erfahrung zurückgreifen können. Wir wissen, wie es ist, wen man mit wenig Fahrpraxis nachts einen Wagen einparken muss. Es hilft uns, nicht unreflektierte Vorwürfe zu machen, sondern die Dinge faktisch und weniger emotional zu sehen.

Was heisst das für unseren Alltag als Führungskräfte?

Wenn wir diese Erkenntnis in den Berufsalltag übertragen, ergibt sich ein unzweideutiger Auftrag. Natürlich geht es nicht darum im Job zu allen Mitarbeitenden, Schnittstellen und Partnern eine Vater-Tochter-, oder Mutter-Sohn-Beziehung herzustellen und zu pflegen. Vielmehr macht es Sinn, sich um das Arbeitsumfeld der Mitwirkenden und für die Probleme, mit denen sie bei der Leistungserbringung zu kämpfen haben, zu interessieren. Und es macht Sinn, eine Vorstellung davon zu haben, wie es ihnen als Menschen geht. Letztlich geht es darum, sich innerlich auf das Gemeinsame und nicht auf das Trennende einzustellen. Sich für die anderen zu interessieren, wird so zur vornehmen Führungsaufgabe. Das hat nichts zu tun mit einer empathischen Überanpassung, die zum Ziel hat keine Konflikte entstehen zu lassen. Es schafft vielmehr die Voraussetzung für einen holistischen Blick auf die Geschehnisse.

Es ist also schon viel gewonnen, wenn es uns auffällt, dass wir gerade wieder einmal alten Stereotypen auf den Leim gehen und uns dabei erwischen, wie wir beispielsweise die überall bekannte Unfähigkeit der IT-Abteilung brandmarken. Wie wir die üblichen Verdächtigen in der Organisation verunglimpfen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie sich die Probleme für diese Fachspezialisten real manifestieren. Hier ist insbesondere von Führungskräfte Selbstdisziplin gefragt. Wenn wir schon wissen, dass der Mensch fehlbar ist, warum sollte das nur für uns zutreffen und nicht auch für die anderen? Dieser Mindset ist die beste Voraussetzung, dass sich Vertrauen einstellt.

Die Dinge so sehen, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben

Ein solches Vorgehen macht uns den Blick frei für das, was sich wirklich zugetragen hat. Es erlaubt dem disziplinierten Selfmanager gar das zu sehen, für das er mitverantwortlich ist. So gelingt es dem anfangs erwähnten Familienvater beim Lesen der Nachricht auf dem Küchentisch, sich daran zu erinnern, dass er ja schon lange den Wagen wegen der defekten Rückfahrkamera in die Reparatur hätte geben müssen …

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news-55 Fri, 20 Aug 2021 22:44:00 +0200 Fehler managen – Teil 2: Der Einzelkämpfer in der Organisation https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/fehler-managen-teil-2-der-einzelkaempfer-in-der-organisation/ Es entspricht dem Management-Zeitgeist, den Fehler als Lernchance zu sehen. Warum nur, fragt man sich, fällt es dann so vielen so schwer, diesen hehren Ansatz in die Realität umzusetzen? Dazu gibt es zwei Aspekte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. In diesem Blog gehe ich auf zwei Hauptverdächtige ein.

Mittlerweile haben viele verstanden, dass es sich lohnt, Fehler als Chance zum Lernen zu sehen. Dabei meine ich mit "Fehler", jene Handlungen, die zu unbeabsichtigten Ergebnissen führen. Die Angelsachsen haben dafür einen treffenden Begriff geschaffen: "Honest Mistake". Viele haben auch verstanden, dass so bald im Zusammenhang mit einem solchen Arbeitsfehler eine Anschuldigung im Spiel ist, die Lernchance vertan ist. Und last but not least, wird zunehmend mehr Führungskräften bewusst, dass, mit welchem 'Fehler' sie auch immer konfrontiert sind, eigene oder solche von anderen, es zwei Lernprozesse gibt. Die persönliche Auseinandersetzung derjenigen Person, der das Malheur zugestossen ist und der organisationale Lernprozess, der sich mit den systemisch beitragenden Faktoren beschäftigt. Für all diese Erkenntnisse gilt: Verstanden heisst noch lange nicht umgesetzt. Zwischen dem Verstehen und dem Anwenden klafft ein grosser Graben. Dies ist zumindest meine Erfahrung aus diversen Kulturprojekten in Firmen und aus langjähriger Selbstbeobachtung. Auf dem Weg zur Anwendung dieser hehren Prinzipien, gibt es erhebliche Hindernisse zu überwinden. Eine dieser Hürden ist im Eigennutzen begründet. Die Auseinandersetzung mit ihr veranschaulicht uns die Bedeutung des persönlichen inneren moralischen Kompasses und der Rahmenbedingungen im Unternehmen, die es braucht, um eine Kultur zu etablieren, die die erwähnten Lernprozesse möglich machen. Einer Kultur, die der Zuverlässigkeit, der Sicherheit, der Resilienz und der Agilität der Organisation dient.

Der einsame Wolf in der Organisation

Sobald wir im Unternehmen von einem Fehler hören, der einer bestimmten Person zugestossen ist, geht von dieser Nachricht eine subtile Verlockung aus. Sie bietet uns die Chance, uns im Verhältnis zum anderen besser aussehen zu lassen. Dazu muss nur in beliebig vielen Gesprächen mit Menschen in der Organisation auf das Ungeschick der betreffenden Person hingewiesen werden. Es reichen feinste Anspielungen. Dickes Auftragen ist nicht nötig, es könnte gar die Absicht erkennen lassen. Das wäre höchst unerwünscht, geht sie doch mit einem moralischen Defizit einher und offenbart unziemlichen Eigennutz.

Dies gesagt, unterstelle ich keiner Leserin und keinem Leser, dass sie derart berechnend unterwegs wären. Weiterlesen lohnt sich daher nicht unbedingt; es ist - wie alles im Leben - eine freie Entscheidung.

Doch wie kann es nur sein, dass der Fehler einer anderen Person Anlass bietet, uns moralisch zweifelhaft zu benehmen? Ich möchte auf zwei Aspekte eingehen, die dafür mitverantwortlich sind:

1. "It's the name of the game, stupid"!

Ganz in Anlehnung an den berühmten Satz des politischen Beraters von Bill Clinton James Carville: "It's the economy, stupid". Mit diesem Slogan hob Carville in Clintons Wahlkampf die Bedeutung der Wirtschaft für das eigene Wahlkampfteam hervor. Die sinngemässe Abwandlung des Ausspruchs weist uns hier auf die Relevanz der vorherrschenden Rahmenbedingungen im Unternehmen hin. Menschen verhalten sich im Kontext eines gegebenen Frameworks stets rational. Wenn dieses in der Firma Einzelleistungen honoriert, sollte sich niemand wundern, wenn danach gelebt wird.

2. Der unredliche Umgang mit der Fehlbarkeit des Menschen

Die Verlockung entsteht, wenn es das Unternehmen kulturell nicht geschafft hat, eine Handlung eines Mitarbeitenden, die zu einem unerwünschten Resultat führt, nicht ausschliesslich und vor allem nicht primär dem Versagen dieser Person zuzuordnen. Sie erwächst allein dort, wo man immer noch der Auffassung ist, der Mensch könne fehlerlos arbeiten. Da, wo nicht nur das Vertrauen in die Mitarbeitenden auf wackeligen Füssen steht, sondern auch die Vorstellung davon, wie es zu ungewollten Ereignissen kommt. Die Ursachen ausschliesslich beim Menschen zu sehen, zeugt von einem krassen Wissensdefizit und von einer Oberflächlichkeit die heutzutage geradezu beschämende Züge annimmt.

Appelle nützen nichts

Wenn wir uns diese zwei Hauptursachen für das "Problem des Einzelkämpfers in der Organisation" vor Augen halten, so macht es wenig Sinn, es mit Appellen an eine moralisch intakte Selbstführung eliminieren zu wollen. Ein Aufruf, sich nicht eigennützig zu benehmen in einem System, dass auf Eigennutz ausgerichtet ist, ist bestenfalls doppelbödiger Zynismus. Ich plädiere für ein anständiges Ansprechen. Wird eine Person höflich darauf aufmerksam gemacht, dass sie gerade daran ist, mit dem Verweis auf Fehler von anderen ihre besonderen Qualitäten als verlässlicher Mensch zu suggerieren, dann verfehlt ein solcher Hinweis seine Wirkung nicht. Es gilt einzig eine kurze Peinlichkeit zu erdulden, die sich nach meiner Erfahrung sehr bald wieder legt.

Commitment

Wenn es mit Appellen nicht geht, so doch mit dem persönlichen Commitment für ein Eigenbild, welches nicht mit den Mängeln der anderen aufgeschönt wird. Ich kann, wenn ich es denn will, konsequent auf solche Maskenschminke verzichten. Persönliche Erfolge, die ohne diesen zweifelhaften Support zustande kommen, fühlen sich obendrauf noch besser an. Das Commitment einzugehen ist übrigens viel einfacher, wenn man sich der eigenen Fehlbarkeit ohne Scheuklappen gewahr wird. Es reicht vollauf, jeden Abend in den Spiegel zu sehen und dabei all das aufzuzählen, was einem an diesem Tag missglückt ist. Wer bei konsequenter Anwendung dieser selbstdisziplinierenden Übung sich plötzlich mit der Frage der eignen Verlässlichkeit konfrontiert sieht, hat einen wichtigen persönlichen Sieg errungen. Eine solche Läuterung stärkt und befähigt uns, den Alltag in einer Vertrauenskultur aktiv mitzugestalten. Es ist eine alte Tatsache, dass eigene Verletzlichkeit uns nahbar macht und Vertrauen schafft.

Fehlermanagement, eine Funktion der Selbstführung

Wenn wir es schaffen, die Fehler der anderen nicht für unsere Zwecke der Selbstoptimierung zu nutzen, so leisten wir einen entscheidenden Beitrag für einen professionellen Umgang mit dem Fehler - ganz generell. Das ist aktives Fehlermanagement. Wir benötigen dazu keine vorteilhaften Rahmenbedingungen, wie sie eine Vertrauenskultur zu geben vermag. Solides Selbstmanagement reicht vollauf, wenngleich es nur für einer Insellösung im eigenen Umfeld reicht.

Rahmenbedingungen, die den Einzelgänger aussterben lassen

Das Problem des einsamen Wolfs kann auch auf der kulturellen Ebene im Unternehmen angepackt werden. Hier gibt es zwei erfolgversprechende Ansätze, die in der Organisationsentwicklung beide parallel in Betrachtung gezogen werden sollten:

  1. Führungsansätze, die aus anderen Gründen entstandene sind, können Abhilfe schaffen: "Unboss the company", "Teamorientierung", «Agile Organisation» und viele andere mehr. Sie alle entschlacken die Organisation und säubern sie von Korrosionsschäden die durch starke Machtstrukturen, Hybris und Silodenken entstanden sind.
  2. Aufklärung und Wissensvermittlung. Hier geht es darum, allen auf geeignete Art und Weise aufzuzeigen, wie ungewollte Ereignisse (im Volksmund Fehler gescholten) zustande kommen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns insbesondere in stark durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägten Arbeitsumfeldern vom völlig überholten Narrativ lösen, welches dem Menschen am scharfen Ende die volle und alleinige Verantwortung für sein Handeln zuweist. Diese Auffassung blendet in hochkomplexen Organisationen auf nicht mehr erklärbare Weise all die mitverursachenden, systemischen Aspekte aus, die zu einem Ereignis führen. Sie trivialisiert unangemessen und sie hilft uns vor allem nicht besser zu werden, Fortschritte zu machen und die Systeme verstehen zu lernen, die wir gebaut haben aber die wir nicht mehr wirklich kontrollieren können.

Wir können in der Entwicklung des Unternehmens auf diesen Pfad einschwenken, in dem wir es unterlassen, unerwünscht eingetretene Ereignisse, die Honest Mistakes, einfach einer Person wie Judensterne anzuheften. Das Bashing der menschlichen Fehlbarkeit können wir loswerden, ohne dass die Firma zum Ponyhof verkommt, in welchem alles erlaubt und nichts geahndet wird. Als Sparringpartner, Coach und Organisationsentwickler unterhalte ich mich gerne mit Ihnen über dieses spannende Thema.

News
news-53 Fri, 06 Aug 2021 20:00:00 +0200 Fehler managen https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/fehler-managen/ Der konstruktive Umgang mit dem Fehler ist in aller Leute Munde. Aus Fehlern lernen ist das Gebot der Stunde. Damit uns das gelingt, müssen wir einen anderen Umgang mit ihm finden. Das beginnt bei uns selbst.

Die Ferienzeit lädt dazu ein und gibt Anlass für kontemplatives Sinnieren über Dinge, die im Alltag oft zu kurz kommen. In diesem Blogbeitrag möchte ich all jenen, die nicht gerne Bücher in den Koffer packen, ein paar Denkanstösse mitgeben. Gedanken, die im Liegestuhl oder an einer verträumten Strandbar mit Blick aufs Meer das Zeug für eine Stärkung des Selfmanagements haben. Sollte es Führungskräfte unter der Leserschaft geben, machen sie diese zudem fit für eine Unternehmenskultur, die zu einem entspannteren und effizienteren Miteinander führt. Sind Sie selbst gar Führungskraft in einem agilen Unternehmen oder in einer Hochzuverlässigkeitsorganisation, haben diese Gedanken allerdings bereits den Charakter einer Pflicht. Ob Sie sich das in den Ferien antun wollen, bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.

Attributionsfehler

Im Zusammenhang mit dem Management von Fehlern kommt dem Attribution Bias eine besondere Bedeutung zu. Er besagt, dass wir die Neigung haben, Fehler anderer ihrer Unfähigkeit zuschreiben und dass wir unsere eigenen Fehler mit den Umständen, unter denen sie entstanden sind, rechtfertigen.

Das Betrachten des Bildes kann uns helfen, der Sache auf die Spur zu kommen. Es kann sein, dass Sie dabei Zweifel an den Fähigkeiten der Strassenmarkierer haben, die diese Arbeit ausgeführt haben. Lassen sie sich dabei nicht von allenfalls hochkommenden empathischen Regungen ablenken. Diese sind wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass der sichtbare Schaden sehr überschaubar ist und dass Sie weder für den Fehler noch für die Qualifizierung der Ausführenden in der Verantwortung stehen. Stellen Sie sich nun trotzdem vor, Sie wären die Führungskraft eben dieser Arbeiter. Das hilft. Stellen Sie sich weiter vor, Sie müssten sie zur Rede stellen. Wie würden sie argumentieren?

Denken Sie kurz nach, bevor Sie weiterlesen.

Was glauben Sie, würden Sie von den Arbeitern in diesem Gespräch zu hören bekommen? Lassen sie mich hier stellvertretend für sie eine mögliche Antwort geben: "Es tut uns leid, dass dieser Fehler passiert ist, es war nie unsere Absicht. Es ist das erste Mal, dass uns etwas so Dummes zugestossen ist. Aber heute waren wir einem besonderen Stress ausgesetzt. Die Disponentin hat es versäumt, uns für die Arbeit den sonst dafür vorgesehenen dritten Mann zuzuteilen. Dann stellten wir erst vor Ort fest, dass die Polizei für die notwendige Verkehrssignalisierung nicht avisiert worden war und wir das nachholen mussten. Last but not least mussten wir bei der Anfahrt noch unser Fahrzeug tanken. Das war nötig, weil die Equipe, die diesen Wagen gestern benutzt hatte, dies entgegen den Gepflogenheiten in unserer Firma, nicht getan hat.

Selfmanagement

Nehmen sie diese Antwort als Turngerät für Ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Fall. Gelingt es Ihnen, sie faktisch zu verstehen? Damit meine ich, genau das zu hören, was die Mitarbeiter gesagt haben? Kann das für Sie glaubhaft sein oder sehen Sie dahinter eher den Versuch einer Ausrede? Wenn ja, warum sollten die Mitarbeitenden ihnen eine Geschichte auftischen, die nicht der Realität entspricht? Das tun sie doch nur, wenn sie befürchten müssen, für ihre unbeabsichtigte Handlungen beschuldigt zu werden. Das wiederum tun sie nur, wenn sie bisher die Erfahrung gemacht haben, dass das in Ihrer Firma der normalen Reaktion auf Fehler entspricht. Da Sie aber in Ihrem Unternehmen im Zusammenhang mit Arbeitsfehlern konsequent anders reagieren, weil sie Ihren Mitarbeitenden vertrauen können, wird die Antwort der Markierungscrew recht gut mit der Realität übereinstimmen.

Damit haben sie die erste Hürde geschafft.

Und nun kommt die Zweite. Sie ist nicht minder anspruchsvoll. Sehen Sie, dass die Ursachen für das unbeabsichtigt entstandene Resultat auch im Kontext zu finden sind, in welchem die Markierungsarbeiten stattgefunden haben? Fremdbestimmter Zeitdruck. Ressourcenmangel. Können Sie sich vorstellen, dass Sie als vorgesetzte Führungskraft damit Teil der Geschichte werden? Für die systemischen, mitverursachenden Faktoren sind doch Sie zuständig. Wenn sie diese Verantwortung sehen, dann haben Sie die zweite Hürde genommen. Herzliche Gratulation! Sie haben sich soeben erfolgreich gegen den Attribution Bias zur Wehr gesetzt. Es ist Ihnen gelungen, Fehler nicht einfach mit der Unfähigkeit der anderen zu verstehen.

Die dritte Hürde

Gelingt es Ihnen nun noch im Gespräch mit den Arbeitern klarzumachen, dass Sie die Verantwortung für die systemischen Ursachen tragen und Sie Ihres dazu betragen werden, dass sie behoben werden, haben Sie auch die dritte Hürde genommen. Es ist Ihnen gelungen, eigene Fehler nicht mit den Umständen, in denen sie entstanden sind, zu rechtfertigen. Sie haben darauf verzichtet, Ausreden vorzutragen, mit denen Sie versuchen, Ihre Unterlassungen als Führungskraft mit fremdbestimmten Einflüssen zu vertuschen.

Selbstverständlich entbindet Ihre vorbildliche Reflexion die Mitarbeitenden nicht davor, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Es macht hingegen einen riesigen Unterschied, wie sie die übernehmen. Ob sie sich schuldig fühlen und negative Auswirkungen auf ihre Qualifikation hinnehmen, oder ob sie Vorschläge entwickeln, die ihnen helfen, in künftig ähnlichen Situationen nicht wieder den gleichen Fehler zu machen. Gelingt es Ihnen als Führungskraft, solche Beiträge Ihrer Mannschaft wertzuschätzen, dann wäre dies ein Grund, bei Ihnen als Mitarbeiter anzuheuern.

Ein Hauch von Change liegt in der Luft

Die unablässige Auseinandersetzung mit dem Attribution Bias eignet sich hervorragend, um insbesondere als Führungskraft im Alltag fit zu bleiben. Sie ist ein Rezept für die Vertrauensförderung und sie hat das Potenzial, aus Ihrer Firma eine lernende Organisation mit einer Just Culture zu machen. So gerüstet können Sie nach den Ferien Ihre Arbeit wieder mit Zuversicht aufnehmen, denn mit diesen Vorsätzen im Kopf wird sich in Ihrem Umfeld einiges zum Guten bewegen. Man könnte fast sagen, dass sich der Urlaub gelohnt hat.

News
news-51 Fri, 23 Jul 2021 20:00:00 +0200 Im Labyrinth der Komplexität https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/im-labyrinth-der-komplexitaet/ Im Nachgang zum unglücklichen Ausfall der Notrufnummern in der Schweiz legt ein Journalist dem CEO der Swisscom den Rücktritt nahe. Der Reporter wird vom althergebrachten Fehler-Schuld-Paradigma geleitet. Das sollte uns zu denken geben. Nicht weil wir Führungskräfte von ihrer Verantwortung entbinden möchten. Sondern weil hier mit antiquiertem Werkzeug versucht wird, etwas geradezubiegen, dass sich so nicht mehr bewerkstelligen lässt.

Vor zwei Wochen in das Festnetz in der Schweiz während acht Stunden weitestgehend zusammengebrochen. Davon betroffen waren auch die Notrufnummern. Das Unternehmen Swisscom schaffte es damit wieder in die Schlagzeilen. Ähnliche Systemversagen, bei denen der nationale Telecom-Serviceprovider nicht die beste Figur machte, liegen nämlich nicht allzu lange zurück. Da ausgerechnet in einer Nacht mit schweren Unwettern die Notrufnummern ausgefallen waren, war das Medienecho entsprechend gross. So mache ich im Nachgang zu den Ereignissen in einem Interview mit dem CEO der Swisscom eine interessante Beobachtung. Ein Journalist fragt ihn, ob es in Anbetracht der Schwere des Vorfalles und der Häufung ähnlicher Vorkommnisse nicht an der Zeit wäre zurückzutreten.

Ein Rücktritt käme für den CEO einer herben Strafe gleich. Er würde so zwar die Verantwortung für das Vorgefallene übernehmen. Doch was wäre damit erreicht? Die Nation hätte einen Sündenbock und sie ginge mit der Illusion, dass das Problem behoben sei, wieder zurück in den ‘courant normale’. Fall erledigt. Interessanterweise tut sie das, obwohl sie ausser der Bestätigung eines fragwürdigen Gerechtigkeitsempfindens genau weiss, dass das Problem nicht gelöst ist.

Die Frage mit Aufforderungscharakter des Journalisten ist nachvollziehbar. Sie kommt aus dem weitverbreiteten und gut verankerten Fehler-Schuld Paradigma. Wer Fehler macht, muss für sie geradestehen, die Konsequenzen tragen, die Schuld auf sich nehmen. Dies im irrigen Glauben, dass damit Gerechtigkeit hergestellt wird und dass der offensichtlich inkompetente Verantwortungsträger durch jemanden abgelöst wird, der es besser kann.

Gehen wir der Sache auf den Grund und prüfen wir das Fehler-Schuld-Paradigma auf seine Tauglichkeit.

Was hat sich zugetragen?

Swisscom führte bei einem Netzelement einer Telefonie-Plattform für Geschäftskunden Wartungsarbeiten durch. Ein Software-Update verursachte ein Fehlverhalten, das einen Dominoeffekt auslöste. Dadurch wurden weite Teile des Netzes von der Störung betroffen. Die Behebung der Panne dauerte deshalb so lange, weil dazu der Lieferant der Netzwerkkomponente beigezogen werden musste. Zum besseren Verständnis gilt es zu erwähnen, dass es in der Schweiz keine Systemführerschaft beim Notruf gibt. So erklärt der CEO im Interview, dass beim Notrufsystem zahlreiche Partner involviert seien. Es gleiche einer Maschine mit 1000 Zahnrädern: Swisscom kontrolliere davon vielleicht 700, auf die restlichen 300 habe die Firma nur beschränkten oder keinerlei Einfluss. Alle diese Zahnräder müssten aber ineinandergreifen. Andernfalls funktioniere der Notruf nicht mehr.

Ohne im Detail zu wissen, was sich konkret abgespielt hat, können wir uns auf die Verkettung der Umstände gedanklich einlassen. Es ist äusserst selten, dass Mitarbeitende der Wartung mit der Absicht ans Werk gehen, eine Panne zu produzieren. Ebenso unwahrscheinlich ist vorsätzliches Fehlprogrammieren von Update-Software. Wir dürfen bestimmt davon ausgehen, dass den Programmier:innen der unerwünschte Dominoeffekt den ihre Software auslösen würde nicht bekannt war. Dass in diesem Fall die Qualitätsprüfung der Software den Anforderungen nicht gewachsen war, kann systemischer Natur sein oder den Begebenheiten im weiteren Kontext in welchem diese Prüfung durchgeführt wurde, geschuldet sein. Der Dominoeffekt, der durch das Software-Update ausgelöst wurde, konnte mit grosser Wahrscheinlichkeit auch von der Wartungscrew vor Ort nicht erahnt werden. Es handelte sich wohl eher um ein unbekanntes Phänomen. Inwiefern die erwähnten 300 Nicht-Swisscom-Zahnräder im Notrufsystem einen Einfluss auf die Geschehnisse hatten, entzieht sich unserer Kenntnis. Sicher ist nur, dass sie eine systemisch beitragende Rolle spielten.

So kommt Komplexität daher.

Was dürfen wir daraus schliessen?

Wir haben es in diesem Fall mit einem System zu tun, welches sich nicht unter der Kontrolle einer einzelnen Organisation befindet. Die Systemgrenzen laufen weit ausserhalb des Unternehmens Swisscom. Sie reichen bis in die Politik und den föderalistischen Aufbau der Schweiz. Ein Auswechseln des CEOs würde eine Person an die Spitze des Unternehmens bringen, die nur potenziell mehr weiss oder kann, die aber mit demselben System konfrontiert wäre. Einem System welches sich nicht mit einem unternehmensinternen Knopfdruck ändern lässt. Ob eine solche Person überhaupt gefunden werden könnte, bleibt selbstredend dahingestellt.

Das Kennzeichen von komplexen Systemen ist nebst den tausendfach vorhandenen wechselseitigen Beziehungen auch der Umstand, dass sie sich nicht mehr steuern, sondern nur noch beeinflussen lassen. Und dass sie in der Lage sind, unerwünschte Ereignisse zu produzieren, obwohl alle korrekt nach Anweisung gearbeitet haben. Hier mit der mittelalterlichen Strafkeule anzusetzen, kommt dem Versuch gleich mit Jogging-Schuhen zum Eishockeymatch anzutreten. Die Sanktion ist im komplexen Umfeld zu einem stumpfen Werkzeug verkommen. Sie behindert, wie wir wissen, gar den geforderten Lernprozess.

Es macht viel mehr Sinn, dass wir uns gewahr werden, dass wir nicht zuletzt der Digitalisierung geschuldet, Systeme gebaut haben, die unserem Rechtsverständnis und unserer Vorstellung von Kontrolle und Verantwortlichkeit weit über den Kopf hinausgewachsen sind. Sie relativieren die Bedeutung des einzelnen Menschen - auch der Chefs. Wir können sie alle auswechseln auf jeder Stufe der Hierarchie und werden feststellen, dass dies nicht zur Lösung der Probleme führen wird. Die komplexen Systeme weisen uns mit unserem Wunsch nach Kontrolle in die Schranken und fordern uns auf, einem anderen Umgang mit ihnen zu finden.

Bei näherer Betrachtung verlangen sie nur etwas von uns: Dass wir sie verstehen lernen. Wir haben sie in vielen Iterationen und oftmals über lange Zeit entwickelt und es war nie jemand da, der sich um das Nachführen der Bedienungsanleitung gekümmert hätte. So bleibt uns nichts anderes übrig, als den mühsamen umgekehrten Weg zu gehen und durch Beobachtung zu lernen, wie sie wirklich funktionieren. Dazu benötigen wir Informationen und Daten, Hinweise und Meldungen von Mitarbeitenden und Vorgesetzten, die systemische Schwachpunkte aufdecken. Wir brauchen eine Kultur, in welcher das Melden von eigenen Fehlern wertgeschätzt wird. Wo Hinweisgeber keine Nachteile oder gar Sanktionen befürchten müssen. Wo die Strafe nur noch für ganz Grobes und Vorsätzliches im Werkzeugkasten der Führung liegt.

Loslassen

Wir dürfen dem Journalisten die Frage nach dem Rücktritt nicht übel nehmen. Sie kommt aus einer längst vergangenen Zeit der einfachen Systeme. Einer Zeit, die uns und unser Rechtsverständnis und unser Rechtssystem nachhaltig geprägt hat. So verwundert es nicht, dass der Reporter im ganzen Interview dem CEO der Swisscom nie die Frage gestellt hat, was getan werden müsste, um die Firma vor solch unerwünschten Ereignissen zu bewahren. Hoffen wir, dass es die nächste Generation von Journalisten schafft.

Die breite Anwendung von künstlicher Intelligenz steht vor der Tür. Die damit einhergehende massive Zunahme der Komplexität verlangt von uns im Umgang mit komplexen Systemen einen gesellschaftlich und kulturellen Entwicklungsschub. Dieser beginnt mit dem ersten Schritt: Werfen wir das Fehler-Schuld-Paradigma über Bord. Es hat seinen Dienst getan. Möge es in Frieden ruhen.

News
news-49 Fri, 09 Jul 2021 20:00:00 +0200 Sicherheitsmanagement ist Beziehungsmanagement https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/sicherheitsmanagement-ist-beziehungsmanagement/ Wenn es darum geht, die Risiken des Unternehmens unter organisatorischer Kontrolle zu behalten, dann sticht einem vorab das Sicherheitsmanagement in die Augen. Was oftmals nicht berücksichtigt wird, ist das Standing der Sicherheitsexperten in der Firma und damit ihre Beziehung zu den Risk Ownern. Wie bedeutungsvoll diese sein kann, veranschaulicht dieser Blogartikel.

Sicherheit entsteht nur durch konkret umgesetzte Massnahmen. Heere Vorsätze und gute Absichten genügen nicht. Nun hat aber jede Sicherheitsmassnahme ihren Preis. Entweder in Form von direktem Cash-out oder in Form von Verlangsamungen von Leistungsprozessen im Unternehmen. Immer wird durch sie die Performance der Firma auf irgendeiner Art beeinträchtigt. Die verantwortlichen Führungskräfte, die Risk Owner, müssen daher bei der Bewilligung von Sicherheitsmassnahmen stets eine schwierige Abwägung zwischen einem abstrakten 'Vorteil', geringeres Schadenspotenzial und oder tiefere Eintretenswahrscheinlichkeit und dem konkret sichtbaren ‘Nachteil’, den solche Massnahmen verursachen, vornehmen. Es handelt sich um eine Beurteilung von zwei sehr unterschiedlich gestalteten und damit schwer vergleichbaren Gütern. Die Entscheidungsträger wissen zwar, dass die Massnahmen ihren Dienst tun werden, von ihrer konkreten Wirkung hingegen müssen sie sich ein persönliches Bild machen. Das werden sie sich auch nicht nehmen lassen. Trotz allen Beteuerungen zur Wirksamkeit dieser Massnahmen durch die Sicherheitsexperten.

Wer garantiert die beste Beratung?

Die verantwortlichen Führungskräfte sind mit dem Risiko konfrontiert, mit der Bewilligung für die Umsetzung von Sicherheitsmassnahmen etwas zu tun, dass sich im Nachhinein als unnötig erweisen könnte. Nehmen wir folgendes Beispiel. Ein Familienvater fragt sich, ob es sich für den etwas in die Jahre gekommen Wagen noch lohnt, eine Vollkaskoversicherung abzuschliessen. Bei dieser Frage orientiert er sich wahrscheinlich an der Einschätzung, ob ein Totalausfall des Fahrzeugs für die Familie finanziell tragbar ist oder nicht. Nun aber die entscheidende Frage: Mit wem diskutiert er diese Abwägung? Mit dem Versicherungsagenten? Mit Arbeitskolleginnen und Kollegen oder mit seiner langjährigen Partnerin und Mutter ihrer beiden Kinder?

Der Versicherungsagent ist ein schlechter Ratgeber. Er hat den Mangel, dass er vom Abschluss der Versicherung persönlich profitiert. Die Arbeitskolleginnen haben den Mangel, dass sie nicht wirklich beurteilen können, ob er den Totalausfall des Wagens finanziell verkraften kann. Auf jeden Fall hat ein solcher keinerlei Einfluss auf deren Lebensumstände. Bleibt seine Gattin. Sie hat als gemeinsam mit ihm die Familie 'bestreitend' dieselbe Optik auf das Problem. Sie weiss, was ein Totalausfall des Wagens für konkrete Auswirkungen auf die Familie hätte. Wenn sie bereit ist, auf das Risiko einer Teilkaskoversicherung einzugehen, wird sie in einem Vollkasko-Schadenfall die Last mittragen. Und so versteht sie auch, dass mit dem erneuten Abschluss der Vollkaskoversicherung, die finanziellen Möglichkeiten der Familie nicht plötzlich wie Bäume in die Höhe wachsen. Wie immer die Entscheidung ausfällt, in einer guten Beziehung ist geteiltes Leid nur halbes Leid.

Respekt und Anerkennung für das Gegenüber

Und so verhält es sich auch im Unternehmen, wenn die Sicherheitsexperten mit den Risk Ownern kommunizieren. Wie immer in der Kommunikation gelingt ein zielführender Austausch nur, wenn sich die beiden auf Augenhöhe begegnen. Wenn sie sich gegenseitig weder als Menschen noch mit der Inanspruchnahme einer überlegenen Argumentation in der Sache abwerten. Erst wenn die Beziehung untereinander von Respekt für das Gegenüber als Mensch und als Manager geprägt ist, entsteht ein Dialog, der geeignet ist, die schwierige Abwägung der zwei so unterschiedlichen Güter zum Wohle des Unternehmens vornehmen zu können. Gute Ratgeber verstehen das Problem der Risk Owner. Sie lassen sich auf die schwierige Beurteilung der so schwer vergleichbaren Güter ein. Sie anerkennen die nachteiligen Auswirkungen von Sicherheitsmassnahmen auf das Geschäft im gleichen Masse, wie sie ihr Anliegen nach ebensolchen vortragen. Sie lassen dem linienseitigen Verantwortungsträger Raum für die Abwägung und drängen nicht wie auf einem Basar der Ansichten darauf, dass ihr Perspektive die richtige ist. Und sie sind weder enttäuscht noch gekränkt, wenn Ihren Vorstössen nicht Folge geleistet wird. Sie verstehen, dass der Risk Owner in einem solchen Fall nichts anderes gemacht hat, als die Verantwortung für das Risiko zu übernehmen. Mit anderen Worten achten sie darauf, in jeder Situation Vertrauen aufzubauen. Effektive Kommunikation findet nur dann statt, wenn gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung vorhanden sind. Man hört einzig jenen Menschen zu, denen man vertraut.

Eine steile Hypothese

Ich stelle die Hypothese in den Raum, dass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Risk Owner und Sicherheitsexperte die Risikoexposition des Unternehmens besser zu reduzieren vermag und damit bedeutungsvoller für die Sicherheit der Firma ist als jede noch so hoch dotierte und professionell aufgestellte Sicherheitsabteilung, deren Vorgesetzte nicht gehört werden, weil das Vertrauen seitens Verantwortungsträger in der Linie fehlt.

Was gilt es zu tun?

Wenn sie sich als Safety-, Security- Compliance- oder Riskmanager damit beschäftigen, was sie tun können, um Vertrauen in die Verantwortungsträger aufzubauen, dann können ihnen die folgenden Fragen Gedankenanstösse geben.

  • Haben sie und der oder die Verantwortungsträger in der Linie ein 'shared mental model' davon, wie der Erfolg des Unternehmens zustande kommt?
  • Verstehen sie die Problemstellung des Risk Owners?
  • Neigen sie dazu die Notwendigkeit von Sicherheitsmassnahmen als dringliches Problem darzustellen, sodass sich der Risk Owner gedrängt fühlt?
  • Knüpfen sie ihren persönlichen Erfolg an die Anzahl der bewilligten und umgesetzten Sicherheitsmassnahmen, an die Höhe ihres Budgets, an die Zahl der ihnen zugeteilten Mitarbeitenden? Oder knüpfen sie ihren Erfolg an den Erfolg des Unternehmens?
  • Fällt es ihnen manchmal schwer, die Argumente für ihre vorgeschlagenen Sicherheitsmassnahmen rein sachlich zu präsentieren?
  • Können sie als Sicherheitsexperte im Unternehmen gut mit einem Entscheid des Risk Owners leben, ein Risiko, welches sie mit Massnahmen mittigeren wollten, zu akzeptieren? Oder frustriert es sie, wenn Sicherheitsmassnahmen nicht bewilligt werden? Falls es ihnen schwer fällt, gelingt es ihnen damit so umzugehen, dass es die Beziehung zum Risk Owner nicht tangiert? Was ist der Grund eines möglichen Frusts?
  • Weil sie nicht Recht bekommen haben?
  • Weil sie die Ablehnung als eine Niederlage sehen?
  • Weil es ihnen unangenehm ist, die Botschaft ihrer Mannschaft zu überbringen?
  • Weil sie es nicht verstehen und die Arbeit so keinen Spass macht?
  • Oder weil ihnen in solchen Situationen immer der Gedanke kommt, dass die Risk Owner schon sehen werden, wie die Risiken eintreten und ihren Schaden anrichten werden. Sollen sie selbst damit fertig werden!

Wenn sie mehr über ihre übrigens vorhersehbare Reaktion erfahren möchten, gibt es dafür ein bewährtes Erklärungsmodel:

 https://www.martin-wyler.ch/fileadmin/user_upload/dokumente/MW-Factsheets-PCM.pdf

Dieses Modell ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, Misskommunikation zu vermeiden und Beziehungen, die in Schieflage zu geraten drohen, wieder zu stabilisieren.

Die Auseinandersetzung mit jeder dieser Fragen kann ihnen Hinweise geben, wo und wie sie an ihrem Standing im Unternehmen arbeiten können, so dass sie zum vertrauten Ratgeber der Entscheidungsträger in der Linie werden können. Dass sie eine Position halten können, in der sie respektiert und gehört werden. Sollte meine Hypothese zutreffen, so wäre dies ein wichtiger Schlüssel für eine wirkungsvolle Reduktion der Risikoexposition des Unternehmens.

News
news-47 Thu, 24 Jun 2021 17:33:00 +0200 Ernsthaftigkeit https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/ernsthaftigkeit/ Immer wenn nichts schief gehen darf, muss die Arbeit mir grosser Ernsthaftigkeit angegangen werden. Das ist eine kulturell tief verankerte Erwartungshaltung insbes. im Hochrisikoumfeld. Kommt’s dann doch nicht gut, hat einmal mehr der Mensch versagt. Ist das alles, was eine Sicherheitskultur zu bieten hat?

Unlängst hat mir ein guter Freund, der immer noch als Kapitän auf der Boeing 777 auf der Strecke fliegt, fast beiläufig eine Geschichte erzählt. Sie ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hat aus Spass die Seiten aller Dokumente gezählt, in denen ihm seine Airline und die Behörden Vorgaben für die Ausübung seiner Tätigkeit machen. Er ist auf die erstaunliche Zahl 12'000 gekommen. Nun wissen wir, dass Vorgaben nicht gleich Vorgaben sind. Aber trotzdem. Die Zahl hinterlässt Spuren.

Stellen wir uns nun vor, dieser Kapitän würde sich mit seiner von Seriosität und Zuverlässigkeit geprägten inneren Haltung in aller Ernsthaftigkeit über die 12000 Seiten beugen. Und er würde sie so lesen, dass er von sich behaupten könnte, er wisse, wo was steht, und kenne Inhalt und Relevanz aller dargelegten Aspekte. Was würde bei einem solchen Vorgehen leiden oder Schaden nehmen?

Ganz offensichtlich die Effizienz. Denn es gibt Seiten, auf denen Dinge beschrieben sind, die für die Ausführung seines Jobs von geringer Bedeutung sind. Handkehrum hat es Seiten, auf denen Sachen stehen, die seine volle Aufmerksamkeit erfordern. Dinge, die er vollkommen verstehen muss, um als Kapitän seine Passagiere sicher, komfortabel und ökonomisch ans Ziel zu bringen.

Und was nähme ebenfalls Schaden?

Kontrollwahn am Werk

Die Geschichte ist eine wunderschöne Metapher für den Ansatz, wie wir konzeptionell vorgehen, wenn wir sicher sein wollen, dass nichts schiefgeht. Beim Job eines Flugkapitäns ist das nachvollziehbar, denn immerhin ist Fliegen mit ernst zu nehmenden Risiken verbunden. Da wollen wir sicher sein, dass sie säuberlich unter Kontrolle gehalten werden. So liegt die Versuchung nahe, dem ausführenden Profi detailgenau zu erklären, wie er zu arbeiten hat. Es geht um Kontrolle. Er hat sich in seiner Arbeit an Vorgaben auszurichten, die sich jene ausgedacht haben, die bspw. das Flugzeug konstruiert haben. Die Hersteller garantieren der Fluggesellschaft, dass die Flüge mit ihrer Maschine sicher sind, wenn sich der Kapitän an ihre Richtlinien hält. Ebenfalls naheliegend ist die ernste Miene des Chefs des Kapitäns, der ihm vor seinem Flug tief in die Augen schaut und ihm zu verstehen gibt, dass er in der vollen Verantwortung steht, sich mit Ernsthaftigkeit an die Vorgaben und Regeln zu halten. Denn eine nicht mit grösstmöglicher Gewissenhaftigkeit ausgeführten Handlung würde er als Fehler taxieren müssen. Unabhängig davon, was die Gründe dafür sein könnten. Auch eine Arbeitserledigung, die die Regeln missachtet, wäre inakzeptabel. Denn was den sicheren Betrieb der Boeing 777 anbelangt, da gibt es kein Pardon. Der Flugzeughersteller, die Luftfahrtbehörde und seine Airline haben alles bis ins kleinste Detail aufgeschrieben. Es geht um korrekte, seriöse Anwendung der Vorgaben. Ein Kapitän, der bei seiner Tätigkeit nicht mit maximaler Ernsthaftigkeit ans Werk geht, ist ein Risikofaktor.

Wirklich?

Die Spuren von 12'000 mit Vorgaben bedruckten Seiten

Wir sehen, dass wir in dieser Geschichte mitten in einem Umfeld sind, in welchem die Ernsthaftigkeit nur so von der Decke tropft. Nebst den ausufernden Regeln und den Chefs die Verantwortung betonen, gibt es in dieser Kultur eine in grossen Lettern an die Wand gemalte Erwartung: «Bemühe dich, die vorgegebene Arbeit in aller Sorgfalt mit höchster Achtsamkeit und Regeltreue zu erledigen». Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden. Auf den ersten Blick scheint in dieser Fluggesellschaft alles mit rechten Dingen zu und her zu gehen.

Auf dem Weg zur Flugplanung gehen dem Kapitän die Worte seines Chefs wieder durch den Kopf, sie haben ihm Eindruck gemacht. Wahrscheinlich aber haben sie noch mehr bewirkt. Als Mensch weiss er, dass er fehlbar ist. Er ist sich bewusst, dass er in Situationen kommen wird, in denen es ihm nicht gelingen wird, sich an all das zu halten, was in den 12’0000 Seiten steht. Das beunruhigt ihn. Einigen seiner Kollegen und Kolleginnen macht es Angst. Es versteht sich von selbst, dass das Credo, welches er sich in dieser Kultur aneignet, heisst: «Ich bemühe mich redlich, die mir zugewiesenen Aufgaben in aller Ernsthaftigkeit zu erledigen und mich strikt an die Regeln zu halten».

Wenn Ernsthaftigkeit zum Hindernis wird

Für die Flugplanung hat er eine halbe Stunde Zeit. Zusammen mit seinem First Officer studiert er die Flugunterlagen. Es sind viele, sehr viele. Sein Credo kommt ihm an diesem Tag zum ersten Mal unangenehm in die Quere. Würde er die ganze Dokumentation mit der Ernsthaftigkeit, die er sich vorgenommen hat, durcharbeiten, würde der Flug mit mehr als einer Stunde Verspätung starten. Dagegen wäre aus Sicherheitsgründen noch nichts einzuwenden. Hingegen wäre er und sein First Officer bei der Flugzeugübernahme heftig im Stress. Beim Versuch, die verlorene Zeit wieder gut zu machen - Pünktlichkeit ist eine wichtige Vorgabe - würden sich Fehler einschleichen. Diese wären mit wesentlich grösseren Risiken verbunden als die nicht in aller Gründlichkeit studierten Flugunterlagen.

Indem es ihm geglückt ist, sich erfolgreich gegen sein eigenes Credo durchzusetzen und er der Ernsthaftigkeit Einhalt geboten hat, hat er etwas Entscheidendes für die Sicherheit getan. Er hat den Beweis angetreten, dass der Mensch in regel-schweren, komplexen und dynamischen Systemen, die sich durch viele wechselseitige Abhängigkeiten auszeichnen, kein Risikofaktor ist. Er ist im Gegenteil ein Sicherheitsfaktor erster Güte.

Er ist die einzige Instanz, die in der Lage ist, in solchen Systemen die schwierige Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Effizienz zu gehen. Sicherheit wird nicht erstellt, indem Regeltreue und Ernsthaftigkeit zur Maxime erhoben werden. Sicherheit in komplexen Systemen kann nur entstehen, wenn vor Ort in der aktuellen Situation jemand da ist, der mit seiner Erfahrung und in Kenntnis der übergeordneten Zusammenhänge sich situativ für mehr oder weniger Ernsthaftigkeit entscheidet. Das gilt nicht nur für Flugkapitäne.

Der Mensch ist Gatekeeper und nicht Risikofaktor

Der Sicherheitskultur kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu. Sie muss so gestaltet sein, dass sie den entscheide-fällenden Menschen in der Organisation wertschätzt. Sie muss Freiräume gewähren und sich davor hüten, mit einer überbordenden Erwartung an Regeltreue aus den Mitarbeitenden und Führungskräften manipulierende Affen zu machen. Wer Sicherheit kulturell zu stark mit Compliance und der von ihr geforderten Ernsthaftigkeit verbindet, geht einer verheerenden Grundannahme auf den Leim. Der Annahme, dass das System, in welchem die Menschen im Unternehmen tätig sind, perfekt gebaut ist.

Hätten wir die Menschen nicht, würden unsere Systeme für unakzeptabel viele Schlagzeilen sorgen. Der Mensch ist mit seiner Fehlbarkeit nicht primär ein Risikofaktor. Er ist der Gatekeeper schlechthin. Binden sie ihn nicht mit einer fehlgeleiteten Sicherheitskultur an den Torpfosten. Denn es macht einen Unterschied, mit welchem Bild im Kopf er zur Arbeit geht: Risikofaktor…? Sicherheitsexperte…?

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news-45 Thu, 03 Jun 2021 22:37:00 +0200 Speaker an den HSG Alumni Open Innovation Days 2021 https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/speaker-an-den-hsg-alumni-open-innovation-days-2021/ Es freut mich, dass ich an den Open Innovation Days 2021 einen Beitrag leisten kann. Der hybride Event findet vom 1. – 9.6.21 statt und ist eine ‘Hommage’ der Alumni an das neu an der Universität St. Gallen entstehende HSG Learning Center. Die lernende Sicherheitskultur wird das Thema meines Workshops sein, mit Fokus auf die damit verbundenen Herausforderungen für die Führungskräfte. Während der neun Tage bieten Studierende, Studentenvereinigungen, Professoren und HSG Alumnae & Alumni verschiedene Formen des gemeinsamen Lernens, Lehrens oder Arbeitens für alle im HSG-Ökosystem beheimatete.

An den Open Innovation Days  werden neue Ideen und Formate umgesetzt und in einer Art Pre-Lab getestet. Studierende, Studierendenvereine, Professorinnen und Professoren sowie HSG Alumnae und Alumni werden verschiedene Formen des gemeinsamen Lernens, Lehrens und Arbeitens bereithalten, um sie während dieser neun Tage zu präsentieren. Das ermöglicht es das HSG Learning Center, noch bevor es seine Tore öffnet, zu erleben und zu fühlen. Mit den Open Innovation Days wird der Austausch zwischen Studierenden, Dozierenden, Mitarbeitenden und Personen aus der Praxis gefördert. Es wird eine fehlertolerante Umgebung geschaffen, welche auch die Zusammenarbeit und Co-Kreation im HSG Learning Center prägen wird.

Der von mir am 7.6.21 moderierte "Learn-Shop" richte sich an Führungskräfte in komplexen und risikobehafteten Umfeldern und an alle, die mehr darüber erfahren möchten, was Sicherheit und Zuverlässigkeit der Organisation mit ihnen als Entscheidungsträgern persönlich zu tun hat. Hochkomplexe Systeme benötigen einen interdisziplinären Ansatz, um die Risiken unter organisatorische Kontrolle zu bringen. Nebst den Sicherheitsmanagementsystemen und den Aspekten des Human Factors spielt die Sicherheitskultur eine entscheidende Rolle. Sie wird top-down geprägt und stellt besondere Anforderungen an die Führungskräfte.

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news-43 Fri, 21 May 2021 21:00:00 +0200 Von toxischen Betriebskulturen https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/von-toxischen-betriebskulturen/ Und wieder erfahren wir in der Presse von unternehmerischem Versagen. Diesmal im Finanzsektor, wo einer Schweizer Bank zweifelhafte Geschäfte teuer zu stehen kommen. Vom mangelnden Umgang mit Risiken ist die Rede und von einer schädlichen Kultur, die den Profit über die Sicherheit stellt. Auch dieser Fall zeigt, dass ein Risikomanagement, welches nicht mit einer Sicherheitskultur unterlegt ist, völlig nutzlos ist.

Als interessierter Leser der Tagespresse werde ich aktuell ausführlich über die unschönen Auswüchse einer toxischen Betriebskultur informiert. Der neuste Fall dreht sich um das systemische Versagen eines renommierten Schweizer Bankinstituts, welches unlängst bei Geschäften mit Greenshill und Archegos unanständige Abschreiber hinnehmen musste. Selbstredend hat diese Angelegenheit das Potenzial, mein Vorurteil über die Finanzbranche und ihre Akteure negativ zu beeinflussen. Dabei ist mir klar, dass ich mit einem solchen Urteil vielen engagierten Individuen, ja ganzen Firmen in dieser Branche nicht gerecht werde. Als toxisch würde ich in diesem Zusammenhang eine Kultur bezeichnen, die Risiken geringschätzt, um damit im Glücksfall viel zu verdienen. Eine so ausgerichtete Kultur ist gut abgesichert. Denn im Pechfall gibt es Führungskräfte in unteren Rängen, denen man die Verantwortung für den eingetretenen Schaden zuschieben kann. Und wie wir wissen, ist es ungleich viel schwieriger, jene zur Rechenschaft zu ziehen, die es unterlassen, einer solchen Kultur den Garaus zu machen. Dies, obwohl man in der Führung für Nichthandeln und für systemische Unzulänglichkeiten ebenfalls die Verantwortung trägt. Wie auch immer. Es sind mächtige Schutzmechanismen im Spiel, die in hierarchisch geführten Organisationen mit starken Machtgefällen weit verbreitet sind. Das Motto: «Always have somebody between you and the problem”. So lässt sich die eigene Unantastbarkeit organisieren. Der Schaden wird im Unternehmen verallgemeinert. Der zweite Schutzwall ist insbesondere in Aktiengesellschaften, die diversifizierte Eigentumsstruktur, die das Aufbegehren der Eigner zuverlässig lähmt. Im Grundsatz setzt das durch die Vorfälle nun ans Licht gezogene Geschäftsgebaren auf Glück und damit auf Zufall. Es handelt sich im eigentlichen Sinne um eine Casinomentalität.

Ohne passende Kultur ist das Risikomanagement wirkungslos

Eine so gestaltete Kultur hat mit Risikomanagement nichts zu tun. Die Disziplin wird zwar geführt, doch letztlich hat sie nur eine Feigenblattfunktion. Ihr Ursprung, nämlich die Risiken unter organisatorische Kontrolle zu bringen, muss in einer Casinokultur als Mittel zur Chancenminimierung verstanden werden. Diese zugegebenermassen pointierte Darstellung macht hingegen deutlich, dass Risiken nicht allein mit Werkzeugen wie Riskmanagement oder Sicherheitsmanagementsytemen unter Kontrolle gebracht werden können. Es braucht eine Sicherheitskultur. Die Risk-Manger und ihre Systeme können so gut sein, wie sie wollen, wenn die Kultur andere Anreize setzt, werden sie zu einem zahnlosen Gespann im Backoffice.

Was wäre, wenn statt Geld Menschenleben auf dem Spiel stünden?

Ein Blick in die Hochrisikobranchen zeigt, dass beispielsweise eine Fluggesellschaft, die Abermillionen von Passieren einen risikobehafteten Transport anbietet, anders zu Werke gehen muss. Wie andere Risikobranchen ist auch die Luftfahrt stark reguliert. Es ist dies ein Umstand, der nicht zuletzt ihrer zweifelhaften Performance in den Entstehungsjahren geschuldet ist. Regulation folgt, wie heute auch die Finanzbranche weiss, den Verfehlungen auf dem Fuss. Meine waghalsigen Vorgänger im Fluggeschäft setzten bei der Konstruktion der Flugapparate und bei deren Betrieb allzu oft auf Zufall und damit auf Glück. Heute hat die Branche bewiesen, dass sie sich sicherheitstechnisch emanzipiert hat. 2019 kamen beim Transport von etwas mehr als 4 Milliarden Passagieren nur 283 Menschen bei Flugzeugabstürzen ums Leben.

So stellt sich die Frage, ob Banker von der Aviatik lernen könnten, wenn es um das Handhaben von Risiken geht. Der Ansatz mag etwas Anmassendes an sich haben. Denn so wie sich die Finanzbranche heute präsentiert, müssen wir davon ausgehen, dass sie sich noch in einer Entwicklungsphase befindet, in der er üblich ist, dass man dem Heldentum frönt. Das könnte es einzelnen schwer machen, sich in die Niederungen des operativen, risikobehafteten Geschäfts zu begeben. Denn die Anerkennung, die dem Helden zukommt, gründet ja auf seiner Bereitschaft, hohe Risiken einzugehen. Was unangenehm veranschaulicht, wie hol der Sockel ist, auf dem er steht. Vielleicht gelingt es mit dem Hinweis, dass auch die Helden der Aviatik vom hohen Ross gestiegen sind. So sind die ehemaligen Könige der Lüfte heute die kühl berechnenden Risiko- und Systemmanager im Kapitänsrang, eingebettet in geschliffene industrielle Prozesse. Sie alle sorgen tagtäglich für den Schutz ihrer Assets – den Passagieren – und streben obendrauf mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln den unternehmerischen (auch monetären) Erfolg an.

Kulturwandel als zwingendes Element für Fortschritt

Die Kapitäne wären heute keine so verlässlichen Führungskräfte, wäre die Transition vom früheren Helden zum System- und Risikomanager nicht mit einem Kulturwandel in der Organisation begleitet gewesen. Der Abstieg vom Sockel hat gut und gerne zwanzig Jahre gedauert. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren Unfälle, die man nicht mehr bereit war hinzunehmen. In der Analyse der Ereignisse zeigte sich oftmals, dass die Helden der Lüfte nicht so gut waren, wie sie vorgaben. Konfrontiert mit den fundierten Unfallanalysen, welche in penetranter Konstanz als mitverursachenden Faktor die menschliche Unzulänglichkeit auch jene der Chefs im Cockpit ans Licht brachte, führte zu einem Umdenken. So wurde in den Achtzigerjahren der Boden für den dringend benötigten Kulturwandel gelegt.

Ein neues Führungsverständnis hielt Einzug und veränderte schlicht alles Bisherige. Das Rollenverständnis der Führungskraft, die Vorstellung von Zusammenarbeit, der Umgang mit Risiken und die Bedeutung von Hierarchie. Insbesondere Letztere wurde völlig neu konzipiert. Ihr wurde das Machtgefälle genommen und damit die Plattform für die Pflege von Allüren. Denn es hatte sich gezeigt, dass es in risikobehafteten Umfeldern nicht sehr hilfreich ist, eine Kultur der hierarchischen Unterordnung zu haben. Eine, die bei den Mitarbeitenden mit Angst einhergeht und die jeden Rückgriff des Chefs auf Ressourcen im Team als Eingeständnis einer persönlichen Unzulänglichkeit interpretiert. Zu gross war zudem die Verlockung, Macht für eigene Zwecke zu missbrauchen und sei es nur, um den eigenen Status zu pflegen. Hierarchie mit Machtgefälle ist eine gefährliche Rahmenbedingung. Dessen sind sich die Mediziner gleichermassen bewusst. Hemmend ist leider auch da nur der Umstand, dass sich die Betroffenen fragen, warum sie etwas verstehen sollten, das ihnen zum Nachteil gereicht.

Unzählige völlig unnötige Unfälle, die mit unendlich viel Leid verbunden waren, haben uns in der Luftfahrt gelernt, dass wir uns selbst regulieren mussten. Mitarbeiter und Führungskräfte wurden in eine andere Kultur eingebettet. Es gibt Studien, die belegen, dass, wenn wir dies ab den Achtzigerjahren nicht gemacht hätten, wir heute jeden Tag zwei bis drei Crashs von Verkehrsmaschinen hinnehmen müssten.

Die Kultur als wirkungsvoller Schutz vor Ungemach

In besagtem Wandel haben wir uns in der Aviatik nicht nur mit der Weiterentwicklung der Sicherheitsmanagementsysteme, sondern auch mit den Rahmenbedingungen für eine auf Sicherheit ausgerichtete Kultur befasst. Sie ist geprägt vom angstfreien Speak-up, im Cockpit wie in der Firma. Geprägt von ihrer Teamorientierung, die verbunden ist mit der Wertschätzung der Beiträge aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Geprägt von der Bereitschaft, über organisatorische Unzulänglichkeiten und von selbst mitverursachten unerwünschten Ereignissen zu berichten, weil Fehler als Lernchance verstanden werden. Von der demütigen Anerkennung der menschlichen Fehlbarkeit. Es ist eine Kultur, in der die Führungskräfte bei nicht beabsichtigten Vorfällen die Verantwortung nicht einfach der involvierten Person zuschieben. Sie handeln im Sinne einer ‘shared responsability’ und kümmern sich um die mitverursachenden systemischen Faktoren, welche auch Mängel in der Kultur umfassen können und setzen sich für die Systemverbesserung ein.

Eine solche Kultur trägt dazu bei, dass sich anbahnende Ungemach besser erkannt und das Risiko am Eintreten gehindert wird. Sie überlässt den Erfolg des Unternehmens nicht dem Zufall, sondern sorgt dafür, dass gefährliche Sololäufe von Führungskräften als Kulturverstoss gelten. Es ist eine Kultur, die die Organisation vor Schäden und Skandalen bewahrt, weil sie die interne Transparenz fördert. Sie ist das notwendige Add-on zum Risikomanagement. Erst durch sie kann es seine Stärken ins Spiel bringen. Wird sie von einer Firma gepflegt, kann man ihr ruhig das eigene Geld anvertrauen.

News
news-41 Thu, 06 May 2021 16:30:00 +0200 Sicherheitskulturen brauchen Leader, nicht Manager https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/sicherheitskulturen-brauchen-leader-nicht-manager/ Unerwünschten Ereignisse wie Vorfälle oder Unfälle geben den Führungskräften die Chance, die Sicherheitskultur im Unternehmen weiterzuentwickeln. Ihr Umgang damit ist entscheidend für den Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Je nachdem, welches Bild von ‘Führung’ sie in sich tragen, werden sie dabei erfolgreich sein oder scheitern.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Wenn wir als Führungskräfte mit einem unerwünschten Ereignis konfrontiert werden und dann unreflektiert spontan reagieren, haben wir mit grosser Wahrscheinlichkeit den ersten Fettnapf bereits betreten. Von da weg befinden wir uns in einer Uphillbattle, wenn es darum geht, Vertrauen aufzubauen. In den letzten zwei Blogs sind wir der Sache auf den Grund gegangen. Wir unterliegen diversen Täuschungen, die allesamt dafür sorgen, dass wir Mühe haben, ein faktisches Abbild dessen zu bekommen, was sich beispielsweise in einem Vorfall tatsächlich abgespielt hat. Wir neigen zum vorschnellen Urteil, glauben aus der Rückschau und in Kenntnis des vorliegenden Schadens genau zu wissen, was sich zugetragen hat und uns reichen minimale Informationen für eine kohärente Geschichte des Hergangs. All diese Illusionen führen dazu, dass wir die Bedeutung des involvierten Individuums als ursächliche Person überzeichnen. Sie beweisen auch, dass die mitverursachenden systemischen Aspekte in unserem Kopf ein Mauerblümchendasein fristen. Wenn wir uns kognitiv nicht gegen diese Irrtümer zur Wehr setzen, drängt sich die Schuldfrage auf. Sie ist nicht Ausdruck von Wohlwollen und sie kann je nach Situation für die Beschuldigten sogar verletzend sein. Wie soll so Vertrauen wachsen?

Nicht Reiz-Reaktion, sondern gezielte Vorbereitung

Eine Sicherheitskultur kann nur in einem Umfeld von gegenseitigem Vertrauen entstehen. Dann, wenn ich jederzeit über selbst gemachte Fehler berichten kann und ich die Gewissheit habe, dass mir daraus keine Nachteile erwachsen. Sondern dass ich damit einen konstruktiven Beitrag für die Sicherheit leiste, weil andere von meiner Erfahrung lernen können. Und weil ich weiss, dass ich damit einen Lernprozess anstosse, der auch der Frage nachgeht, was das System lernen könnte. Ob ich von einem mir unterlaufenen Fehler berichte, hängt direkt davon ab, wie ich die Reaktion meiner unmittelbar vorgesetzten Führungskraft einschätze. Ich bin da sehr vorsichtig und scheue jedes Risiko. Wer belastet sich schon gerne selbst? Dies wissend macht es für alle Führungskräfte Sinn, sich zu überlegen, wie sie in solchen Situationen reagieren und welche Haltung sie einnehmen wollen. Was sie sagen werden und welche Fettnäpfe sie proaktiv auf die Seite schieben. Mit anderen Worten, Vorbereitung ist angesagt. Es stehen zwei Fragen im Zentrum: Wie kann ich Vertrauen bilden und welche Rolle nehme ich als Führungskraft ein?

Vertrauensbildung

Ich weiss nicht, wie es ihnen geht. Ich selbst baue Vertrauen in andere Menschen auf, wenn sie mir gegenüber wohlwollend eingestellt sind. Wenn ich kein Risiko laufe, von ihnen verletzt zu werden und wenn ich weiss, dass sie letztlich gute Absichten haben. Es sind somit genau diese drei Punkte, die wir in der persönlichen Auseinandersetzung und für die Vorbereitung auf ein Gespräch nutzen können. Gelingt es mir, der Person wohlwollend zu begegnen? Was sind meine guten Absichten? Was würde die andere Person verletzen?

Nun ist Vertrauen keine Einbahnstrasse, sondern entsteht wechselseitig. Daher lohnt es sich in einem zweiten Teil der Vorbereitung auch die folgende Frage im Voraus zu stellen: Was müsste die Person tun, um mich zu verletzen? Und last but not least werde ich mich im Face to face achten, ob der andere mir gegenüber wohlwollend eingestellt ist und ob ich seine guten Absichten erkennen kann. Der zweite Teil der Vorbereitung ist für die Steuerung des Gesprächs von Bedeutung. Wenn ich von der anderen Person verletzt werde und oder mir Misstrauen entgegenschlägt, werde ich die Beziehung zum Thema machen. Die Besprechung des Vorgefallenen wird dann sekundär.

Die Rolle der Führungskraft: Richter oder Coach?

Die Rolle einer Führungskraft wird nicht nur über den Auftrag definiert, sondern ebenso sehr durch die unzähligen Erwartungen an das WIE der Führung. Da wir auch eigene Vorstellungen von der Art und Weise wie wir führen haben, eröffnet sich hier ein Freiraum, den es zu nutzen gilt. Indem wir das WIE unserer Führung für uns persönlich klären, interpretieren wir unsere Rolle als Führungskraft innerhalb unternehmenskulturell gegebener Bandbreiten weitgehend selbst. Um diese Interpretation geht es. Welches Bild von ‘Führung’ trage ich in mir? Bin ich die denkende und anordnende Instanz, die Aufträge erteilt und die überprüft, ob alles richtig gemacht wurde? Dann habe ich mich für Steuerung und Kontrolle entschieden, lebe im Paradigma der Organisation und funktioniere Top-down. Wer Führung so interpretiert, wird im Falle eines unerwünscht eingetretenen Ereignisses in die Rolle des Richters gedrängt. Der Gerechtigkeitssinn wird dafür sorgen, dass die Verantwortung für das Vorgefallene einer Person zugeteilt wird. Damit einher geht die Anschuldigung und damit die Angst des oder der Betroffenen und geopfert wird das Vertrauen. Eine solche Sicht auf die Dinge ist stets mit der immer wieder zu beobachtenden Nicht-Bereitschaft von Führungskräften verbunden, die Mitverantwortung für Mängel im System zu übernehmen.

Es geht auch anders. Wenn sich das Bild von Führung am übergeordneten Ganzen orientiert. Wenn Mitarbeitende nicht als Werkzeuge einer Organisationsmaschinerie verstanden werden, sondern als wertvolle Ressourcen, die nicht morgens zur Arbeit fahren mit der Absicht, einen Fehler zu machen. Mitarbeiter, die besondere Fähigkeiten haben und gleichzeitig fehlbar sind wie jeder Mensch. Dann schlüpfen Leader in die Rolle des Coaches. Sie unterstützen, machen Lernen möglich und suchen im Miteinander nicht nur die Problemlösung, sondern streben auch nach der Verbesserung des Systems. Sie übernehmen Mitverantwortung. Sie schaffen Vertrauen.

Die Mitverantwortung für das System

Unabhängig davon, wie eine Führungskraft Führung versteht, die Aufforderung, die Mitverantwortung für erkannte Systemmängel zu übernehmen, ist eine heftige Ansage. Es ist letztlich eine Angelegenheit der inneren Haltung und Einstellung. Der Weg dazu ist kein Sonntagsspaziergang. Wenn ich mich aufmache, muss ich mich mit einer anstrengenden Frage beschäftigen. Gelingt es mir, trotz der normalerweise stark eingeschränkten Einflussmöglichkeiten auf das System hinzustehen und die Mitverantwortung für die Mängel auf mich zu nehmen? Das ist nicht leicht, denn die systemischen Aspekte, die für das Ereignis mitverursachend waren, müssen häufig auf oberen und höchsten Managementebenen angegangen werden. Mir wird das Argument in den Schoss gelegt, dass ich ja nur ein kleines Licht bin und meine Kompetenzen, Mittel und Möglichkeiten für die Problembehebung nie und nimmer ausreichend sind. Was, wenn jede Führungskraft so denkt? Im Grunde geht es in dieser Auseinandersetzung darum, ob ich mich als Leader, als Teil einer Führungsmannschaft verstehe oder als fremdbestimmter Untertan mit einem Jobprofil, dem ich gehorchen muss.

Es lohnt sich im Übrigen, sich in diesem Zusammenhang die Frage zu stellen, ob es redlich wäre, vom Mitarbeiter Verantwortung für seine Handlungen zu verlangen, ohne selbst für Systemmängel mitverantwortlich zu zeichnen. Mitverantwortung ist eine Sache der inneren Haltung von Führungskräften. Wem dies nicht gelingt, dem geht Grösse ab. Das wäre für viele noch verkraftbar. Nicht aber für das Unternehmen. Denn eine Mitverantwortung-ablehnende Haltung torpediert die vertrauensbasierte Sicherheitskultur empfindlich. Sie überlässt das Problem dem Mitarbeiter, reduziert und trivialisiert das Vorgefallene und missbraucht die der Hierarchie verdankte Macht für eigene Zwecke.

Ein langer Weg, der Führungskräften viel abverlangt

Zu der oben erwähnten Vorbereitung auf ein Gespräch mit Betroffenen gehört somit eine spezifische Auseinandersetzung mit den systemischen Aspekten des Vorfalls. Meine Erfahrung zeigt, dass das keine leichte Aufgabe ist. Es ist eine ungewohnte und daher schlecht beherrschte Perspektive auf die Sicht der Dinge. Sie muss geübt werden wie jede Führungstätigkeit. Es ist nicht nur herausfordernd, die mitverursachenden Elemente zu erkennen, mit schwingt stets erschwerend die uns von Mutter Natur eingepflanzte Täuschung, dass die Ursachen doch die Handlungen der involvierten Personen gewesen sein müssen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Bedeutung der systemischen Aspekte für das Zustandekommen von unerwünschten Ereignissen von Führungskräften immer noch ungebührlich relativiert wird. Dieser Umstand ist Ausdruck einer wenig entwickelten Sicherheitskultur. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Weg zu einer vertrauensbasierten Kultur lange ist. Er beginnt da, wo Führungskräfte ihre Interpretation von Führung überdenken und neu ausrichten, wo es ihnen gelingt, Vertrauen aufzubauen und sie in die Lage kommen, für psychologische Sicherheit zu sorgen und da, wo sie die systemischen Aspekte von Ereignissen und deren Bedeutung zu erkennen vermögen. Dieser Weg ist ein Kulturwandel, der ohne Hick-ups nicht zu bewältigen ist. Daher lohnt es sich, für die ersten Schritte einen Coach zur Seite zu haben, der nicht nur den Weg kennt, sondern auch dafür sorgt, dass die Entwicklung der Organisation auf dem eingeschlagenen Pfad bleibt.

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news-38 Thu, 22 Apr 2021 21:00:00 +0200 Das Urteil aus der Rückschau kommt vom hohen Ross und unterminiert die Sicherheitskultur https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/das-urteil-aus-der-rueckschau-kommt-vom-hohen-ross-und-unterminiert-die-sicherheitskultur/ Vertrauen ist der Grundbaustein jeder Sicherheitskultur. Der Aufbau und Erhalt in der Organisation ist eine Angelegenheit der Führungskräfte. Was sich so locker ausspricht, erweist sich als eine besondere Herausforderung für die Führungsmannschaft. Es bedingt eine konsequente Selbstführung insbes. dann, wenn es um das Überwinden der uns von der Natur mitgegebenen Irrationalitäten geht. Der Rückschau- und Ergebnisfehler ist eine dieser Challenges.

Wir sind im letzten Blog einer perfiden Irrationalität nachgegangen, die es uns als Führungskräfte schwer macht, für psychologische Sicherheit in der Organisation zu sorgen. Leider ist es nicht die Einzige, der wir uns näher widmen sollten. Ein weiteres Handicap, welches uns die Natur auferlegt hat, macht uns zu schaffen, in unserem Bemühen, im Unternehmen eine Sicherheitskultur zu verankern, die den Namen verdient. Eine, die sich nicht dadurch kennzeichnet, dass die Vorgesetzten ihre Erwartungen an das Verhalten der Mitarbeitenden perfektionieren und in immer eindringlicheren Appellen und ausführlicheren Leitbildern, Weisungen und Reglementen darlegen. Sondern eine, die auf der Basis des gegenseitigen Vertrauens steht und in der es den Führungskräften gelingt, psychologischen Sicherheit als Kulturelement zu gewähren. Es ist das Phänomen des Rückschau- und Ergebnisfehlers, welches wir näher betrachten müssen. Auch dieser Denkfehler ist eine Wahrnehmungsverzerrung. Sie steht im Zusammenhang mit der Problematik der Schuldzuweisung und hat damit einen direkten Einfluss auf das Vertrauensverhältnis. Vertrauen aber ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgversprechende Sicherheitskultur.

Die Wirkung des Rückschau- und Ergebnisfehlers

Zuerst führt dieser Denkfehler dazu, dass wir glauben, dass wenn das Ergebnis einer Aktion schlecht war, auch die Handlungen der involvierten Akteure schlecht waren. Wir nehmen in solchen Fällen an, dass es falsche Entscheidungen, mangelhafte Situationsanalysen oder verpasste Chancen waren, die die Gründe für das schlechte Resultat waren. Der Rückschaufehler ist daher schnell anschuldigend und untergräbt das Vertrauen. Die Annahme, dass die Akteure, sprich die Menschen, fehlbar waren, ist oft das Produkt des Denkfehlers, dem wir im letzten Blog nachgegangen sind. «What you see is all there is» (WYSIATI-Regel). Jene Wahrnehmungsverzerrung, die uns auch aufgrund minimaler Informationen ungefragt eine kohärente Geschichte präsentiert.

Wir können weiter beobachten, dass Handlungen im Lichte der Schadenslage im Nachhinein als Fehler taxiert werden, obwohl sie in der Situation selbst für die Akteure als normal, vernünftig und angebracht beurteilt wurden. Oftmals wird eine Handlung deshalb als unverantwortlich risikoreich bewertet. Nehmen wir als Beispiel einen risikoarmen chirurgischen Standardeingriff, bei dem es zu Komplikationen kommt und der Patient stirbt. Die Hinterbliebenen, Anwälte oder Richter werden in der Rückschau zu der Ansicht neigen, dass der Eingriff von Anfang an riskant war. Sie sind davon überzeugt, dass der Arzt es hätte besser wissen müssen.

Des Weiteren führt dieser Denkfehler dazu, dass die Eintretenswahrscheinlichkeit des Vorfalles generell überbewertet und die Fähigkeit der Involvierten, diese richtig einzuschätzen, als ungenügend beurteilt wird. Was nichts anderes heisst, als dass wir uns im Moment, in welchem wir von der Schadenslage Kenntnis erlangen, glauben machen, ein faktisch richtiges Urteil über die Eintretenswahrscheinlichkeit abgeben zu können. Das ist eine Überheblichkeit, die jene herabsetzt, die in die Ereignisse verwickelt waren. Könnten wir diesen Denkfehler nicht einer von der Natur aus uns mitgegebenen Irrationalität zuschreiben, müssten wir uns korrekterweise dafür entschuldigen.

Diese drei Effekte des Rückschaufehlers untergraben das Vertrauen in besonderem Masse, weil die Ursache für den Schaden bei allen implizit immer beim Menschen liegt und ihm so die Schuld zugeschoben wird. Jede unreflektierte Reaktion einer Führungskraft auf ein unerwünscht eingetretenes Ereignis unterminiert daher den Aufbau einer Vertrauenskultur. Ich werde in einem nächsten Blog dieser Problematik nachgehen.

Von systemischer Bedeutung hingegen ist der Umstand, dass mit dieser Wahrnehmungsverzerrung die Gründe, die zum Vorfall führten, unkritisch betrachtet werden und die Ursachenfindung viel zu oberflächlich abgewickelt wird. Denn sie macht uns glauben, dass wir es ja schon immer gewusst haben. Somit kennen wir auch die Ursachen bereits und jede weitere Beschäftigung mit dem Fall erübrigt sich. Diese Beobachtung zeigt, dass es unter einer solchen Deutung eines Vorfalles für die Sicherheitsexperten sehr schwierig wird, im Unternehmen die notwendigen Ressourcen zu bekommen, die eine professionelle Untersuchung nun einmal benötigt. Erst diese wird das Unternehmen in die Lage versetzten, tatsächlich zu lernen.

Was gilt es zu tun?

Einige dieser Konsequenzen des Rückschau- und Ergebnisfehlers sind für die in Vorfälle involvierten Personen schwer zu ertragen. Sie führen in Kombination mit der WYSIATI-Regel zum einen bei urteilenden Vorgesetzten dazu, dass sie den Betroffenen und der von ihnen erlebten Situation nicht gerecht werden. Das untergräbt auf korrosive Weise die Beziehung und das gegenseitige Vertrauen. Zum anderen hindern sie die Führungskräfte daran, Verantwortung für die Organisation zu übernehmen und sich für die Verbesserung des Systems einzusetzen, weil sie glauben, die Ursachen zu kennen. Es ist schon viel gewonnen, wenn diese Effekte den Führungskräften bewusst sind. Das hilft ihnen, ihre negativen Auswirkungen zu überwinden und bspw. die Situation so zu sehen und zu verstehen, wie sie sich den Betroffenen präsentiert hat, bevor die Ereignisse ihren Lauf genommen haben.

Im Rahmen von Projekten der Sicherheitskulturentwicklung ist es aus meiner Erfahrung daher wichtig, den Führungskräften die Gelegenheit zu geben, sich mit dieser robusten und perfiden kognitiven Illusion näher zu befassen. Denn wir verzichten ungern auf eine Vorstellung, die uns glauben macht, wir könnten die Unvorhersehbarkeit der Welt erfassen. Wenn wir uns vom tröstenden "Ich-hab’s-immer-schon-gewusst" lösen müssen, kommen wir als Führungskräfte mit Kontrollverlust in Kontakt. Das ist unangenehm. Es lohnt sich, bei solchen Auseinandersetzungen einen Coach zur Seite zu haben.

Oberstes und wichtigstes Gebot im Zusammenhang mit dem Rückschau- und Ergebnisfehler ist es, die Qualität einer Entscheidung nie anhand ihrer Auswirkung oder am Resultat zu bemessen. Sondern stets an der Qualität des Prozesses, der zur Entscheidung oder zur Handlung führte. So gesehen wäre es korrekt, wenn Manager, die mit dem Eingehen von zu viel Risiko hohe Gewinne gemacht haben, diese aber nur dem Glück verdanken können, von ihren Vorgesetzten sanktioniert würden. Weil wir aber dem Rückschau- und Ergebnisfehler unterliegen, neigen wir dazu, solchen Managern ein Gespür für den Erfolg beizumessen. All jene, die an glückverwöhnten Momentan-Lichtgestalten zweifeln, werden im Lichte des Erfolgs, den sie für sich reklamieren, als mittelmässig, zaghaft und schwach abgestempelt. Diese Reflexion veranschaulicht uns die Hartnäckigkeit des Rückschau- und Ergebnisfehlers. Als Führungskräfte sind wir gefordert, ihm mit einer konsequenten Selbstführung zu begegnen. Wer sich aufmacht, eine Sicherheitskultur im Unternehmen zu verankern, ist aufgefordert, bei sich selbst zu beginnen.

Note

Diese Aufforderung richtet sich nicht nur an Führungskräfte, sondern im besonderen Masse an (Staats-)Anwälte und Richter. Sie sind immer in der Position des Rückschauenden. Der Rückschaufehler hilft der klagenden Partei, eine kohärente Geschichte zu präsentieren, die mit der Realität nur bedingt oder gar nicht übereinstimmen muss. Der Effekt des «Es war (in Anbetracht des Schadens) offensichtlich, dass der Angeklagte ein zu grosses Risiko eingegangen ist» wirkt bei der urteilenden Öffentlichkeit wie auch bei vielen Richtern grossartig. Gut zu wissen, dass es zunehmend Richterinnen und Richter gibt, die dieser perfiden Wahrnehmungsverzerrung erfolgreich widerstehen können. Schwierig für die Richter hingegen ist der Umstand, dass das Strafrecht nicht die Handlungsabläufe und Entscheidungsprozesse, die zum Schaden führten, primär im Fokus hat, sondern die Schadengrösse. Es wäre an der Zeit, dass unsere Gesetzgeber hier für einen Ausgleich der zwei Orientierungen sorgen würden.

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news-36 Thu, 08 Apr 2021 20:32:00 +0200 Das vorschnelle Urteil: Killer der Sicherheitskultur https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/das-vorschnelle-urteil-killer-der-sicherheitskultur/ Für eine Sicherheitskultur, die ihren Namen verdient, müssen Führungskräfte das Fehlerparadigma überwinden. Sie sind gefordert, in ihrem Einflussbereich für psychologische Sicherheit zu sorgen und das geht nur über den Aufbau von Vertrauen. Um das zu erreichen, müssen sie sich mit Irrationalem auseinandersetzten, das im Wesen des Menschen begraben liegt.

Im letzten Blog habe ich mich mit den äusseren Rahmenbedingungen beschäftigt, die für eine innerbetriebliche Sicherheitskultur von Bedeutung sind. Sie sind aber nur die halbe Miete. Wenn nicht gleichzeitig vor der eigenen Haustüre gewischt wird, erweisen sich auch ideale äussere Bedingungen als wirkungslos. Daher möchte ich in den nächsten Blogs auf spezifische Führungspraktiken und Führungsfähigkeiten eingehen, die für den Aufbau und Erhalt einer Sicherheitskultur eine besondere Herausforderung für die Führungsmannschaft sind.

Kultur entwickelt sich im Unternehmen von oben nach unten. Für sie ist das sichtbare Verhalten der Führungskräfte von entscheidender Bedeutung. Ein gutes Standing vorausgesetzt, können sie sich als Vorbilder anbieten und sind damit in der Lage, auch schädliche Paradigmen zu verändern.

Das üble Fehlerparadigma

Wenn es um Sicherheit, Zuverlässigkeit und Resilienz der Organisation geht, steht ein Paradigma besonders sperrig im Raum: das Fehlerparadigma. Wo Fehler da Schuld. Solange es im Unternehmen wirkt, solange werden sich die Menschen, seien es Führungskräfte oder Mitarbeitende, nicht im notwendigen Mass für die Verbesserung der Sicherheit, Effizienz und oder der Qualität einsetzen. Sie haben Angst und werden ihre Unterstützung für die Verbesserung nicht anbieten. Diese Haltung ist rational und verständlich.

Die relevante Frage ist daher, wann was getan werden muss, um die Angst abzubauen und welche Rolle die Führungskräfte dabei spielen. Es gibt Momente, die eignen sich besonders gut, um als Leader Wirkung zu erzeugen. Immer dann, wenn es darum geht, ein Ereignis zu behandeln, welches zu einem unerwünschten Resultat geführt hat. Dort spielt sich das für die Kultur alles Entscheidende wie unter einem Brennglas ab. Fallbehandlungen sind DIE Chancen-Fenster für Vorgesetzte, die Kultur im Unternehmen richtungsweisend zu beeinflussen. Durch die Vorfälle wird ihnen der rote Teppich ausgerollt, auf dem ihr Verhalten besonders nachhaltig der Belegschaft vermittelt werden kann. Solche Chancen bieten sich zum Glück nicht oft. Daher gilt es die wenigen gut zu nutzen. Es geht immer um dasselbe, um das Gewähren der psychologischen Sicherheit. Ich möchte in der Folge auf einen Aspekt eingehen, der Führungskräfte unterstützt, die sich aufmachen, psychologische Sicherheit zu etablieren. Wichtigstes Element dabei ist der Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Das ist einfacher gesagt als getan. Denn auf dem Weg dazu müssen wir wirkungsstarke Wahrnehmungsverzerrungen (Irrationalitäten) verstehen, mit denen uns die Natur ausgestattet hat. Wenn es uns gelingt, sie zu erkennen und ihnen zu widerstehen, dann haben wir gute Voraussetzungen für den Aufbau und den Erhalt von gegenseitigem Vertrauen. Damit können wir den Grundstein für psychologische Sicherheit im eigenen Wirkungskreis legen.

WYSIATI-Regel

Daniel Kahneman hat den Begriff geprägt «What you see is all there is» (WYSIATI). «Nur was man gerade weiss, zählt». Die psychologische Forschung zeigt, dass wir uns unsere Meinung anhand der gegenwärtig verfügbaren Informationen bilden. Das Erfolgskriterium unseres Gehirns ist die Kohärenz der Geschichte, die es daraus zusammensetzt. Die Qualität und Menge der Daten, auf denen sie beruht, ist weitgehend belanglos. Das ist zwar erschreckend, aber es ist so. Unser Gehirn macht aus verschwindend wenig vorhandenen Informationen immer eine kohärente Geschichte. Sie entspricht dann unserer Meinung zum entsprechenden Sachverhalt. Die nicht bekannten, weil nicht wahrgenommenen Informationen könne per se keinen Einfluss auf die Konstruktion unserer Wirklichkeit haben. Doch sie sind da und damit Teil der faktischen und rationalen Realität.

Wenn wir als Führungskräfte mit Ereignissen zu tun haben, die zu einem unerwünschten Resultat geführt haben wie Unfälle mit Schäden oder Verlusten irgendwelcher Art, so haben wir es zuerst mit den Menschen zu tun. Denn sie sind in diese Ereignisse verwickelt und ihre Handlungen sehen wir im Zusammenhang mit den Ereignissen. WYSIATI wirkt. Unser Gehirn baut sich aus den anfänglich vorhandenen Informationen ungefragt eine Geschichte, die einen Sinn ergibt. Diese kognitive Wahrnehmungsverzerrung verbindet das Resultat des Ereignisses (outcome) kausal mit dem handelnden Menschen, weil er 'sichtbar' ist und wir ihn implizit für verantwortlich halten. Die Ursache für das unerwünschte Ergebnis kann gestützt auf diese Informationen nur der Mensch sein, der den an ihn gestellten Ansprüchen nicht gerecht geworden ist und sich so schuldig gemacht hat. Unserem Gehirn reichen drei Inputs für eine kohärente Geschichte: Wer (Mensch), Was (Schaden) und Verantwortung. Diese Informationen lassen es als enorm plausibel erklären, dass der Grund für das Geschehene beim involvierten Menschen liegt, dem die Verantwortung für die Aufgabe übertragen war. Tief in uns verankert entfaltet das Fehlerparadigma 'Wo Fehler da Schuld' seine Wirkung. WYSIATI hat massgeblich zum Entstehen des Fehlerparadigmas beigetragen. Diese Irrationalität wird immer und immer wieder hörbar im Spruch jener, die vom unerwünschten Ereignis erfahren. Sie rufen: Wer hat es getan? Würden sie die nicht vorhandenen Informationen interessieren, würden sie rufen: Was waren die Gründe, die dazu geführt haben?

In komplexen Systemen ist nicht nur der Mensch am Werk

Das Fehlerparadigma offenbart uns, dass es uns immer noch sehr schwerfällt, die Ursachen für unerwünschte Ereignisse in ihrer Vielfalt zu erkennen. Wir sehen stets nur den Menschen und halten verzweifelt an seiner Verantwortung fest. Dies, obwohl wir Systeme geschaffen haben, die seine Einflussmöglichkeiten massiv einschränken. Die eine Komplexität erreicht haben, die den kausalen Zusammenhang zwischen seinem ursächlichen Handeln und der daraus abgeleiteten Wirkung bis zur Unkenntlichkeit vernebeln oder ganz unterbrechen. Wir halten tapfer an dieser überfordernden Verantwortlichkeit des Menschen fest, weil wir uns vor den unabsehbaren Folgen fürchten, gäben wir sie auf.

Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn sie die Verantwortung für 300 Passagiere im Flugzeug haben und der Maschine, die sie steuern, mit einem kleinen Side-Stick gerade mal ihre Absicht kundtun können, wohin sie fliegen soll. Was die Steuerungscomputer mit ihrem Absichtsinput anstellen, wissen sie nicht und können es auch nicht nachverfolgen. Das Einzige, was sie wissen, ist der Umstand, dass es meistens gut kommt und die Computer ein brauchbares Resultat liefern. Aber leider nicht immer. So geschehen bei den zwei tragischen Unfällen der 737 MAX, wo die Steuerungscomputer aufgrund eines Fehlers derart stark in die Steuerung eingegriffen hatten, dass die Piloten die Kontrolle über die Maschine verloren haben. Es ist nicht jedermanns Sache für Aufträge, die derart fremdbestimmt sind, die Verantwortung zu übernehmen.

Sich zur Wehr setzen

Wir können es nicht verhindern, dass sich unser Gehirn bei Vorliegen von ganz wenigen Informationen eine plausible Geschichte zusammenbaut. Aber wir können unterbinden, dass wir uns daraus eine Meinung über das Vorgefallene bilden. Denn eine Meinung ist mit einem Urteil verbunden. So ist auch jede Schuldzuweisung ein Urteil. Urteilende Vorgesetzte müssen sich fragen, was sie damit bezwecken. Und inwiefern dieser Zweck Teil ihres Jobs ist. Sind Leader insbesondere in Unternehmen die grosse Risiken unter organisatorische Kontrolle bringen müssen, nicht dazu da, die Dinge sicherer und zuverlässiger zu machen? Haben sie nicht die Aufgabe, für kontinuierliche Verbesserung, Effizienz und Output-Qualität zu sorgen?

Wer sich das zur Aufgabe macht, stemmt sich mit aller Kraft gegen die Irrationalität der vorschnellen Urteilsbildung. Wenn das gelingt, wird es seine Wirkung nicht verfehlen. Mit dem Verzicht auf ein Urteil verzichtet die Führungskraft, sich über den anderen zu stellen. Etwas, das nicht allen Leadern leichtfallen dürfte. Doch damit wird die Voraussetzung für eine gelingende Beziehung und für Vertrauen geschaffen. Es macht den Weg frei für eine Betrachtung der Geschehnisse der anderen Art. Sie öffnet den Blick auf all die mitverursachenden Einflussfaktoren und sie lässt die Frage zu, warum es in der Situation, in der sich die Betroffenen befunden haben, Sinn machte, so zu handeln oder zu entscheiden. Wenn sich Führungskräfte und Mitarbeitende in der Vorfall-Behandlung auf Augenhöhe begegnen können, haben sie eine gute Chance, eine Geschichte der Ereignisse nachzuzeichnen, die den realen Begebenheiten nahekommt. Sie erlaubt es, adäquate Schlüsse zu ziehen und wertvolle Lernprozesse in Gang zu setzen.

Auch hier gilt: Verstanden ist noch nicht gelernt. Meine Erfahrung in Kulturentwicklungsprojekten zeigt mit aller Klarheit, dass diese Disziplin Teil des Leadership Trainings sein muss, welches im Rahmen der Organisationsentwicklung angepackt werden sollte. Es ist nicht die einfachste und für einige Führungskräfte stellt sie eine enorme Herausforderung dar. Es kommen Führungsphilosophien ins Wanken.

News
news-34 Thu, 25 Mar 2021 20:00:00 +0100 Wendezeit https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/wendezeit/ Unsere austarierten und perfektionierten Ansätze, Verfehlungen und Schaden von uns abzuwenden erweisen sich zunehmend als brüchig und ineffektiv. Mit Akribie schaffen wir Regelwerke und Compliance-Strukturen, nur um festzustellen, dass sich damit Ungemach nicht abhalten lässt. Eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Vorgehensweise ist angesagt.

In regelmässigen Abständen werden wir Zeugen von Verfehlungen in Unternehmen und Organisationen. Auch die Bundesbetriebe SBB, SWISSCOM, Post und Ruag machten im letzten Jahr Schlagzeilen mit viel Unerfreulichem, sodass sich Politiker und die eidgenössischen Räte genötigt sahen, sich der Sache anzunehmen. Neue Gesetzte müssten her, die Kontrolle müsse verschärft werden, so der Tenor in Bern. Unbesehen der Tatsache, dass der zutage getretene Aktivismus wohl eher politisch motiviert war, zeigte sich bei den Räten das immer wieder beobachtbare, reflexartige Muster nach mehr Vorgaben und mehr Überwachung in der Reaktion auf unerwünschte Ereignisse oder Zustände. Dasselbe ist auch in den Unternehmen regelmässig zu beobachten. Wenn unsere Antwort auf Verfehlungen darin besteht, mit mehr Regeln und mehr Kontrollen zu reagieren und wir gleichzeitig die Erfahrung teilen, dass wir von ihnen trotzdem immer wieder überrascht werden, sollten wir uns mit unserem reflexartigen Verhaltensmuster etwas näher auseinandersetzen. Wie erfolgreich und effizient ist unser Konzept, wenn es darum geht, Dinge zuverlässiger und sicherer zu machen?

Unser ‘Compliance-Konzept’ basiert auf der Annahme, dass Vorgaben, Regeln und Gesetze Betriebsanleitungen von Systemen aller Art sind, welche beschreiben, wie die Systeme einen vorhersehbaren Output liefern. Er basiert zudem auf der Annahme, dass sich die im System tätigen Menschen an diese Betriebsvorschrift halten, dass sie compliant sind. Der dritte Bestandteil dieses Konzepts ist die Kontrolle. Damit wird sichergestellt, dass die Betriebsanleitung richtig implementiert ist und dass sich die Menschen an sie halten. In aller Kürze besteht das Konzept aus Regeln, Compliance und Audit. Nun stellen wir aber fest, dass dieser transaktionale, kausale Ansatz uns seine Schwächen immer und immer wieder offenbart.

Mangelnde Kompetenz

Untersuchungen von unerwünscht eingetretenen Ereignissen im Hochrisikoumfeld, dort, wo die Analyse des Vorgefallenen mit besonderer Akribie erfolgt, zeigen, dass es in komplexen Systemen immer wieder zu Situationen kommt, für die die Betriebsanleitung keine Anweisung bereitgehalten hat. Weiter stellen wir fest, dass es in unseren Systemen zu Fehlleistungen kommt, obwohl alle im Sinne der Befolgung der Betriebsanleitung alles ‘richtig’ gemacht haben. Es kommt noch schlimmer. Wir stellen weiter fest, dass es oftmals nur gut gekommen ist, weil sich ein oder mehrere Akteure im System nicht an die Betriebsanleitung gehalten haben. All diese Situationen führen uns auf unliebsame Weise vor Augen, dass wir mit dem Schreiben von Betriebsanleitungen für komplexe Systeme zunehmend überfordert sind. Kleinlaut müssen wir uns eingestehen, dass uns die nötige Kompetenz abgeht.

Leadership ist angesagt

Damit drängt sich für die Akteure in komplexen soziotechnischen Systemen die Aufforderung, situativ das Richtige zu tun, immer mehr in den Vordergrund. Der simple Gehorsam der Regelbefolgung greift zunehmend zu kurz. Sich bequem nur dem Einhalten der Vorgaben zu verpflichten, wird, so unangenehm es sich auch anhören mag, der Sachverpflichtung weichen müssen. Die Verantwortung für die Sache drängt sich in den Vordergrund. Leadership ist angesagt – für alle. Für die Chefs wie auch für die Mitarbeitenden. Wenn es sicher und zuverlässig zu und her gehen soll, müssen alle Verantwortung für die Sache übernehmen. Compliance ist ein Kind des Paradigmas der Organisation. Sie gehört, wie Frederick Winslow Taylor in seinem Werk “Principles of Scientific Management” bereits 1919 ausführte, zum Fabrikwesen der industriellen Revolution. Sie gehört dahin, wo der Mensch als Teil der Maschine verstanden wird, wo alles steuerbar und kontrollierbar ist wie bei einer Maschine, wo das Unternehmen zur Organisation wird. Compliance gehört dahin, wo die Gedankenarbeit von der Ausführungsarbeit getrennt wird. Der Umstand, dass derjenige, der denkt, heute erfahren muss, dass er seiner Sache nicht mehr gewachsen ist, rückt den anderen, der sich gewohnt war, mit einfacher Regeltreue seinen Beitrag zu leisten, ins Scheinwerferlicht der Mitverantwortung für das übergeordnete Ganze.

Bedeutung der Compliance überdenken

Wir haben in der Vergangenheit viel dazu beigetragen, dass Compliance überhandgenommen hat. So wichtig sie in kausalen Zusammenhängen sein mag, so korrosiv wirkt sie heute in komplexen Umfeldern, in Zeiten von Wandel, Krisen und Veränderung. Es ist angebracht, jetzt über die Bedeutung der Compliance nachzudenken. Wir tun gut daran, genau hinzusehen, wo sie ihre Rolle nach wie vor spielen kann. Wir sollten uns daranmachen und diejenigen Bereiche im Unternehmen herausschälen, in denen sie der Sache nicht gewachsen ist. Da, wo ihre Fehlanreize Kollateralschäden verursachen und da, wo sie als Instrument für Zuverlässigkeit und Sicherheit stumpf geworden ist. Der Compliance wohnt die Arroganz inne, dass der Denkende recht hat und der Ausführende kein Recht hat. Mittlerweile wissen wir, dass es keiner Obrigkeit jemals geglückt ist, uns die Welt zu erklären, geschweige denn uns eine Bedienungsanleitung für sie zu schreiben.

Die Aufgabe der Führung

In Anbetracht der zunehmend erkennbaren Überforderung wäre Demut angesagt und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Wenn es in unserer Welt darum geht, Klippen zu umschiffen, Risiken zu bewältigen und Schaden abzuwenden und damit für Sicherheit zu sorgen, muss sich die Führung anders aufstellen. Sie wird sich zunehmend mit der Frage beschäftigen müssen, wie in der Organisation oder im Unternehmen ein Klima des Vertrauens aufgebaut werden kann. Wie ein der Unbill der Komplexität trotzendes Miteinander gestaltet sein soll. Sie wird sich einem Credo zuwenden müssen, welches zum Ziel hat, das System zu verstehen. Sie wird aus allen Lernende machen; sich selbst als Vorbild vorneweg. Sie wird Meldesysteme einbauen und alles daransetzten, dass die Meldepersonen keine Angst haben müssen. All dies wird helfen, das organisationale Lernen zu verankern, Ereignisse als Chance wahrzunehmen und die Fehlbarkeit des Menschen primär im Lichte der Systemkomplexität zu verstehen. Dadurch werden sich anbahnende Probleme niederschwellig adressierbar. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sich die Entscheidungsträger in einer Eskalation wieder finden und oder dass sie aus der Presse erfahren, was im eigenen Unternehmen falsch läuft. Verfolgt man im Nachgang zu unerwünschten Vorkommnissen ihre Entstehungsgeschichte, so wird oft festgestellt, dass es Menschen in der Organisation gab, die davon wussten. Meist waren auch Hinweise auf das sich anbahnende Ereignis vorhanden, diese wurden aber nicht systematisch erfasst und analysiert. Der Showcase zu diesem Thema sind die unsäglichen Verfehlungen und die mit ihnen verbundenen Ränkespiele am Universitätsspital Zürich. Das Versagen des ‘Compliance Ansatzes’ kam da mit aller Schärfe ans Licht und die Entscheidungsträger sahen sich veranlasst, unter dem situativen Druck sich der Sicherheitskultur zuzuwenden. Wir verfolgen die Entwicklung mit Spannung. Denn es müssen Hierarchien abgebaut, Silos zum Einstürzen gebracht und Key-Player zu Lernenden gemacht werden.

Was wir brauchen

Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die Reaktion der Politik und der Räte auf die Verfehlungen in den Bundesbetrieben als zwar verständlich, aber weder effizient noch zeitgemäss. Was die Unternehmen brauchen, sind gesetzliche Rahmenbedingungen, die es erlauben, nachhaltige Sicherheitskulturen aufzubauen. Das wäre der Job des Parlaments. Es braucht einen wirkungsvollen Schutz der Meldepersonen und der in den Sicherheitsmanagement-Systemen und den ‘Critical Incident Reporting Systems’ des Gesundheitswesens erfassten Sicherheitsdaten. Es braucht eine strikte Trennung der Vorfalluntersuchungen, die sich dem Lernen widmen, von den Untersuchungen der Strafverfolgungsbehörden. Es braucht eine Strafgesetzgebung, die sich nicht am Schaden ausrichtet, sondern an den Ursachen, die zum Schaden geführt haben und es braucht eine griffige Gesetzgebung, die es erlaubt, nicht nur Individuen, sondern Organe und Entscheidungsträger, die die Systemverantwortung tragen, zur Rechenschaft zu ziehen. Es braucht in unserer komplex gewordenen Welt juristische Verfahren, in denen es möglich ist, die wichtige Frage zu beantworten, welches im zu beurteilenden Fall das höher Gut für die Gesellschaft darstellt: Maximal viel aus dem Vorgefallenen zu lernen oder die Schuldigen zu suchen und zu bestrafen. Und es braucht einen unverkrampfteren Umgang mit dem Whistleblowing. Bei all dem hätten die Räte viel zu tun. Dass sie auf die Verfehlungen in den Bundesbetrieben mit Kontrolle und Misstrauen reagiert haben, hat all den dringend benötigen Änderungen an den gesetzlichen Rahmenbedingungen kein bisschen Vorschub geleistet.

Es ist Wendezeit.

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news-32 Thu, 18 Mar 2021 21:06:00 +0100 Drei neue Kapitäne https://www.martin-wyler.ch/blog/detail/drei-neue-kapitaene/ Herzliche Gratulation an Simon Billeter, Jürg Niemeyer und Raphael Jenni! Die drei erfahrenen First Officer der Luftwaffe und der Rega Schweizerische Rettungsflugwacht haben bei mir einen dreitägigen Joint-Leadership Course erfolgreich absolviert. Ich wünsche euch alles Gute, viel Erfolg und Befriedigung in eurer neuen, anspruchsvollen Rolle im Cockpit des Bombardier Challenger!

Im Februar haben drei erfahrene First Officer der Rega Schweizerische Rettungsflugwacht und der Luftwaffe als angehende Kapitäne auf dem Bombardier Challenger einen drei Tage dauernden Leadership Course bei mir absolviert. Der Kurs beinhaltete wichtige Aspekte der Selbstführung, die Tools und Methoden zur Handhabung ausserordentlicher und krisenhafter Situationen und die grundlegenden Führungsaspekte für Verantwortungsträger und Leader im Hochrisikoumfeld. Die drei Tage haben sie fit gemacht, um mit Zuversicht die praktische Kapitänsausbildung auf dem Flugzeug weiterführen und abschliessen zu können. Die Online-Durchführung haben die angehenden Kapitäne positiv bewertet. Danke an Cptn Andy Siegenthaler für seine moderative und inhaltliche Unterstützung. Danke an die engagierte Teilnehmer-Crew. Ich wünsche euch alles Gute auf dem Weg in diesen anspruchsvollen und wunderschönen Job!

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